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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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er ihr nicht dabei helfen konnte, sich anzumelden, ihr Zimmer zu finden, sich einzurichten, warum er nicht mit ihr zu Abend essen, mit ihr plaudern, sie aufs Zimmer und ins Bett bringen konnte. Die Droschke schaukelte. Die Pferdehufe klapperten. Die Lichter rückten näher.
    »– und Dr. Kellogg«, sagte sie, »ein Heiliger auf Erden. Ich kann dir gar nicht sagen, was für ein Glück du gehabt hast, mit so einer berühmten Familie in Verbindung zu kommen – ist es sein Sohn oder der seines Bruders?«
    Sie schwieg. Ein Abgrund tat sich auf. Charlie stürzte hinein. » Sein Sohn«, sagte er kläglich. »Der des Doktors.«
    »Sagtest du nicht in einem deiner Briefe, sein Name sei George? George, nicht wahr?«
    »Ja«, bestätigte Charlie, und seine Stimme war kaum mehr zu hören.
    Sie bogen jetzt in die Auffahrt ein, und Mrs. Hookstratten gurrte und brach in Entzückensschreie aus wie eine Touristin. »Wie großartig!« und: »Ist das italienischer Marmor?« Und zwischendrin, während sie den Hals reckte, hinausschaute und immer wieder bewundernde Rufe ausstieß, wandte sie sich ihm zu und sagte: »George, ja, wie ich mich freue, ihn kennenzulernen -und seinen Vater wiederzusehen. Hab’ ich dir erzählt, daß ich Dr. Kellogg zum erstenmal vor drei Jahren in Manhattan getroffen habe? Oder sind es schon vier? Egal, er hielt einen Vortrag über Freßsucht, ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen, Meg Rutherford und – ach du liebe Zeit, wir sind ja schon da.«
    Sie waren da. Die Droschke hielt an, und der Kutscher stieg herunter. Der Türsteher des San und ein Paar dazupassender Pagen fielen über sie her wie Schakale. »Hör mal, Tantchen, ich muß dir was sagen –« setzte Charlie an und zog an den Worten, als klebten sie an seinen Zähnen fest.
    »Oh, schau mal! Da ist ja diese ganz reizende Mrs. Cormier, die ich im Zug von Chicago hierher kennengelernt habe« – ihr Kopf ragte jetzt aus dem Fenster –, »juhuu, Winifred!«
    »Ich, äh, ich muß gehen. Ich meine, ich kann nicht mit reinkommen. Ich würde wahnsinnig gern mit reinkommen, wirklich, aber ich muß zurück. In die Fabrik, zu den Büchern –«
    Niemand rührte sich. Der Türsteher, die Pagen, der Kutscher – sie hätten aus Stein gehauen sein können. Draußen schienen die Grillen unisono an ihrem Gezirpe zu ersticken, und neben der Tür der Droschke vor ihnen stand völlig perplex Winifred Cormier, deren konvexe Figur in einem schlichten Kleid steckte. Mrs. Hookstratten starrte ihn verblüfft an, und in ihren Mundwinkeln arbeitete es. »Du kannst nicht mit reinkommen?« wiederholte sie. »Wie meinst du das?«
    Charlie lächelte dümmlich, geschwollen, ein bravouröses Lächeln, das seine Panik nicht im geringsten verdeckte. »Arbeit«, sagte er lahm.
    »Arbeit? Um diese Uhrzeit?«
    Worte tropften von seinen Lippen wie kleine, saftige Früchte – »Pflicht«, »Konkurrenz«, »Schinderei«, »Tretmühle« –, aber sie zeigten keine Wirkung. Mrs. Hookstratten schnitt ihm mitten in einer verschnörkelten Entschuldigung das Wort ab. »Willst du damit sagen, daß du mich, nachdem ich so weit gereist bin und nach allem, was ich für dich getan habe, praktisch seitdem du ein Wickelkind warst – und für deine Eltern, vergiß das nicht –, nicht sehen willst? Kann das sein? Oder wird mein Gehör schlechter?«
    »Tantchen, ich –«
    »Sag nicht ›Tantchen‹ zu mir. Ich will eine klare Antwort, ja oder nein: Kommst du mit rein?«
    »Bitte, reg dich nicht auf, aber ich muß ein Unternehmen führen – jahrelang hast du gesagt, ich soll mich irgendwo engagieren, einen Platz im Leben finden, und jetzt, wo ich –«
    »Kannst du dir vielleicht für einen Augenblick vorstellen, wie vollkommen erschöpft ich bin, Charles? Kannst du das? Eine Frau in meinem Zustand, die ganze Tage und Nächte im Zug verbringt, mit einem schludrigen Service, mit Essen, an dem sogar ein Schwein ersticken würde –«
    Charlie zog den Kopf ein. Er sah auf in die Gesichter des Sanatoriumstürstehers und der Pagen in den gelb-grünen Uniformen – über dem Herzen waren Feigenblätter eingestickt- und nahm das Risiko auf sich. »Ja. In Ordnung«, sagte er und erhob sich langsam von seinem Sitz, stieg aus und reichte ihr die Hand, »aber nur für einen Augenblick.«
     
    An diesem Abend war ihm das Glück hold. In der Eingangshalle des Sanatoriums herrschte ein quirliges Treiben, Menschen kamen und gingen, glitten in Rollstühlen vorüber, standen im

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