Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
gemeißelt, und zog mit einer spöttischen Verbeugung den Hut. »George Kellogg, stets zu Ihren Diensten, Madam. Sie haben nicht zufällig etwas Kleingeld für mich?«

6.
EIN SCHWERT AUS FEUER
    Es war eine Nacht zum Schlafen, der Wind rauschte leise in den Bäumen, der Regen schlug den Takt auf den Dachschindeln, das Haus schimmerte im sanften, unsteten Griff seiner knackenden, raschelnden Geräusche. Aber John Harvey Kellogg fand keinen Schlaf. Er lag in seinem Bett, starr wie eine Leiche, innen und außen geschrubbt, steckte zwischen steifen weißen Laken und frischgewaschenen Decken wie in einem versiegelten Umschlag und zwang sich dazu, sich zu entspannen. Er hielt krampfhaft die Augen geschlossen und horchte auf das Wispern und Ticken um sich herum. Es war so still und der Regen so leise, daß er Ellas gelegentliche gedämpfte Schnarcher aus ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors hörte, eine winzige, schwache Ahnung von einem Geräusch, die ihn irgendwie traurig stimmte.
    Es war nach zwei Uhr, und er brauchte den Schlaf. Nicht wie ein gewöhnlicher Mensch und auch nicht soviel – aber er brauchte ihn nichtsdestoweniger. Normalerweise kam er mit vier Stunden Schlaf pro Nacht aus, und stets war er der ganzen Angelegenheit mit Mißtrauen begegnet. Schlafen schien Verschwendung, Sünde, ein Schindludertreiben mit wertvollen Ressourcen, und es erstaunte ihn immer wieder von neuem, daß manche Menschen sich darauf freuten. Aber als Arzt verstand und akzeptierte er das Bedürfnis des Körpers, sich von den Strapazen, die er im wachen Zustand durchmachte, zu erholen, und er war gewillt, es einmal am Tag zu erfüllen wie alle anderen Kurvorschriften auch. Ebensowenig wie es ihm im Traum eingefallen wäre, auf Klistiere, Schwedische Körperbewegungen oder Kleie zu verzichten, ebensowenig verzichtete er auf Schlaf – er war eine lebenswichtige Komponente der physiologischen Lebensweise. Und für gewöhnlich schlief er, dank eines reinen Willensakts, auf effiziente und ökonomische Weise ein. Nach einer Tasse Sanitas-Koko oder Kräutertee und nachdem er ungestört noch ein bißchen im Journal der Amerikanischen Ausscheidungsgesellschaft oder im Hydrotherapie-Rundschreiben gelesen hatte, schlüpfte er in seinen weißen Batistschlafanzug mit dem silbernen JHK-Monogramm über dem Herzen und schlief ein, kaum hatte er das Licht gelöscht.
    Aber nicht in dieser Nacht. Zu viele Dinge beschäftigten ihn. Obwohl es Sonntag war, in der Regel der entspannteste Tag in der Woche – er verbrachte Zeit mit Nachdenken in der Kirche und eine vergnügliche halbe Stunde mit einem der Kinder am Klavier-, war er im Augenblick alles andere als entspannt. Unter anderem war er nervös wegen des Fragekasten-Vortrags am nächsten Abend. Nicht wegen des Themas, das war nie ein Problem – über weißen Zucker hatte er in letzter Zeit viel nachgedacht, ein ebenso schädliches und unbekömmliches Erzeugnis wie feingemahlenes Mehl, und darüber würde er reden. Nein, seine Sorge – vielmehr seine Angst – betraf George. Es waren zwei Wochen vergangen, seit er sein verbrecherisches Attentat auf die Zuhörer des Fadenwurm-Vortrags verübt hatte, und obwohl er in der Zwischenzeit nichts unternommen hatte, war der Doktor davon überzeugt, daß er eine neue Abscheulichkeit plante. Und konnte sich der undankbare kleine Dreckskerl einen besseren Zeitpunkt für einen Anschlag aussuchen als seinen Auftritt auf der Bühne? So arbeitete Georges Kloake von einem Gehirn.
    An jenem Abend hatten sie ihn nicht erwischt – und wehe George, wenn sie ihn erwischt hätten. Wenn sie ihn erwischt hätten – und bei diesem Gedanken riß der Doktor die Augen weit auf –, hätte er nicht gewußt, ob er sich hätte zurückhalten können, ob sich nicht wiederholt hätte, was sich in jener schrecklichen Nacht im Treppenhaus ereignet hatte, als George gerade zu ihnen gekommen war. Der Junge hatte ihn verhöhnt, die Vorhänge in Brand gesetzt und hundert Patienten, deren Nerven es nicht vertrugen, gereizt zu werden, eine Todesangst eingejagt. Um ein Haar hätte er Mrs. Cornishs Taftkleid angezündet, und in der Tat hatte er ihr eine üble Verbrennung zweiten Grades an der linken Brust beigebracht, als eins der Wurfgeschosse in ihrem Ausschnitt landete. Wie er hatte entkommen können, war ein Rätsel. Nachdem er mit seiner pyromanischen Vorstellung die Patienten in Panik versetzt hatte, war er irgendwie in der Lage gewesen, dem Doktor, Frank Linniman und einem

Weitere Kostenlose Bücher