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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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den kein Fall hoffnungslos war, kein Dickdarm zu verstopft, kein Magen zu übersäuert, »und ich möchte ihn mir morgen persönlich ansehen.«
    Eleanor sah ihn erstaunt an. Ihr Mann trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Persönlich?« wiederholte sie. Ein seltenes Geschenk war ihr in den Schoß gefallen, ein Segen der Götter. »Aber Doktor, das ist zu freundlich von Ihnen … Wir wissen, wie beschäftigt Sie sind, und –«
    »Sie haben einen großen Verlust erlitten«, begann der Doktor zögernd, wie ein Wahrsager oder ein indischer Mönch, aber dann spulte sein Gedächtnis – diese stahlharte, unfehlbare, luftdichte Geisteskraft, die ihm während der vielen Jahre zustatten gekommen war – die Fakten des Falls ab. Lightbody, Eleanor. Kaukasisch, weiblich. Fünf … achtundzwanzig Jahre alt. Peterskill, New York. Neurasthenie, Autointoxikation, Verlust des Kindes. Ja, ja, das war es. »Nichts kann ihn wiedergutmachen, ich weiß, und ich kann Sie, Sie beide, meines tiefsten Bedauerns und Mitgefühls versichern. Aber Sie müssen weiterleben, und wissenschaftliche Ernährung, Ruhe und frische Luft werden Ihre Gesundheit wiederherstellen, so wie sie die Gesundheit von Hunderten und Aberhunderten vor Ihnen wiederhergestellt haben. Sie werden sehen.« Er hielt inne, blickte der Frau in die Augen, fällte eine Entscheidung. »Und ich werde mich auch um Ihren Fall persönlich kümmern, meine Liebe, selbstverständlich werde ich das.«
    Erregung schien in ihr hochzusprudeln wie die heiße Fontäne in einem Geysir. Ihre Lippen zitterten, und ihre Wangen röteten sich; einen Moment lang fürchtete der Doktor, sie würde auf die Knie fallen. »Oh, Doktor, Doktor«, rief sie, und es war ein Gesang, ein Gebet, ein Hosianna des Dankes und der Freude.
    Er winkte ab: Nicht der Rede wert. Und dann wandte er sich dem Mann zu. »Ich sehe, daß Sie leiden, junger Mann – ich sehe es an der Fahlheit Ihrer Haut, an Ihren Augen … und, und –« Plötzlich streckte er eine Hand aus, langte Will Lightbody an die Lippen und zwängte ihm wie ein Pferdehändler den Finger in den Mund. »Ja, ja, sagen Sie A … Ihre Zunge ist belegt, ich wußte es! Einer der schwersten Fälle von Autointoxikation, die ich je gesehen habe …«
    Will ließ den Kopf sinken. Eleanor schien schwer getroffen.
    »Aber nichts, womit wir hier nicht fertig würden, das versichere ich Ihnen«, fügte der Doktor rasch hinzu. »Natürlich kann ich das nicht hundertprozentig sagen, bevor wir Sie nicht richtig gründlich untersucht haben, aber ich hege doch die Hoffnung –« Er unterbrach sich abrupt. Wo war George? Er sah Dab durchdringend an, fing den Blick von einem halben Dutzend Patienten auf – hallo, hallo –, drehte sich einmal vollständig um die eigene Achse, bevor er ihn entdeckte. Er biß die Zähne zusammen. Da war er, George, Hildahs Junge, zerlumpt und stinkend, ein Landstreicher, ein Herumtreiber mit löchrigen Schuhen, am anderen Ende der Halle stand er neben J. Henry Osborne jr., dem Fahrradkönig, und bettelte um Kleingeld. »George!« schrie der Doktor, und die ganze Halle wandte sich ihm zu.
    Es war ihm höchst peinlich. Man befand sich an einer Stätte des Heilens, des Friedens und der Ruhe, wo die Flure widerhallten von den beruhigenden Klängen des Battle-Creek-Sanatorium-Streichquartetts und niemand lauter als im Flüsterton sprach. Und hier stand er und schrie wie ein Italiener in einer Mietskaserne.
    Im nächsten Augenblick hastete Dab über den marmornen Fußboden, und zwei Pfleger, große, muskulöse Männer mit schrankartigen Brustkästen und unversöhnlichen Schultern, steuerten auf des Doktors fehlgeleiteten Sohn zu. Zerstreut, das prophylaktische Lächeln auf seinem Gesicht festgefroren, verbeugte sich der Doktor knapp vor den Lightbodys – »Ein Fall für die Wohlfahrt«, murmelte er, »kein Grund zur Aufregung« –, und dann hetzte er davon in Richtung des Korridors, winkte mit einer Hand über dem Kopf, um die Pfleger zu dirigieren wie ein überarbeiteter General, der seine Truppen aufmarschieren läßt.
     
    In seinem Büro, nachdem er sich hinter der riesigen Schaluppe seines Mahagonischreibtisches niedergelassen und das Visier seines Augenschirms tief heruntergezogen hatte, war der Doktor ein anderer Mensch. Er hatte wieder das Sagen, die Kontrolle, alles war an seinem Platz, und die Welt war wieder in Ordnung. Das heißt, abgesehen von George. Nicht ein bißchen zerknirscht, saß er seinem Adoptivvater gegenüber,

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