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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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fläzte sich auf dem Stuhl, das omnipräsente höhnische Grinsen aufs Gesicht gebügelt. Hinter George, eingeklemmt zwischen den gerahmten Porträts von Sokrates und Elie Metschnikow, stand Dab an der Wand und imitierte, so gut er konnte, einen Gefolgsmann: Arme verschränkt, Schultern gerade, Kinn gereckt. Die zwei Pfleger warteten vor der Tür.
    Der Doktor, der sich nicht wirklich wohl fühlte, wenn er sich nicht bewegte, stieß den Stuhl vom Schreibtisch zurück und begann auf dem Teppich hin und her zu gehen. Trotz seines vielen Redens von einer biologischen Lebensweise und vom einfachen Leben trieb er sich selbst unablässig an, arbeitete von vier Uhr morgens bis Mitternacht, sieben Tage in der Woche. Schlaf? Der Doktor verschmähte Schlaf – wer hatte schon Zeit zum Schlafen? Er reiste nach Algerien, Italien und Mexiko, nach Paris, London und Lissabon, sprach vor dem Verband der Nußanbauer, Sektion Nord, dem Nationalen Milchkongreß, diktierte seine Bücher
    (unter anderem Simple Tatsachen über das Sexualleben, Der Mensch, das Meisterwerk, Der verkrüppelte Dickdarm und Der Reiseweg eines Frühstücks), überwachte die Verwaltung des San, organisierte die Gesellschaft zur Verbesserung der Rasse und die Amerikanische Liga für effiziente Gesundheit, amtierte als Präsident des Medizinischen Missionscollege von Amerika und eines halben Dutzend weiterer Institutionen und brachte es außerdem noch fertig, pro Tag fünfundzwanzig Magendarmoperationen durchzuführen. Wenn er nicht mehr soviel Zeit wie früher für Ella hatte, die mittlerweile taub war und zunehmend schwächer wurde, oder für seine zweiundvierzig Kinder, wer mochte ihm einen Vorwurf daraus machen?
    »George«, sagte er und schritt mit gesenktem Kopf auf und ab, »du enttäuschst mich. Nein, ich kann genausogut ehrlich sein: Dein Verhalten widert mich an. Widert mich regelrecht an. Ich habe dich aufgenommen. Dich gerettet. Deine Mutter war nichts weiter als eine ganz gewöhnliche, ganz gewöhnliche –«
    »Na los, sprich’s aus – eine Hure. Sie war eine Hure.«
    Georges Rückgrat war krumm wie ein verbogener Draht. Er rutschte tiefer und tiefer, bis ihn das Gefüge des Stuhls zu absorbieren schien. Er machte eine Pyramide mit seinen schmierigen Fingern, lächelte nachdenklich und sagte nichts.
    Der Doktor schritt auf und ab. Licht funkelte auf dem rauchgrauen Zelluloid seines Augenschirms. Der Augenschirm war Bestandteil seiner Bürokleidung – er verbarg den Ausdruck seiner Augen, und er trug ihn, wenn er diktierte, seinem Personal Instruktionen erteilte, unangenehme Gespräche wie dieses führen mußte. Auf und ab schreitend, gestattete er sich einen tiefen Seufzer, in dem Ekel brodelte. »Du bist zu einem Dorn in meinem Fleisch geworden, George, und ich verstehe einfach nicht, warum. Ich habe dich erzogen, dir alles gegeben –«
    Georges Lachen, hart wie der Schlag einer Welle gegen den Bug eines Frachtschiffs, schnitt ihm das Wort ab. »Und was genau hast du mir gegeben? Fünf Minuten von deiner Zeit? Ein Schulterklopfen? Die einmalige Gelegenheit, unbezahlt als dein Dienstbote zu arbeiten?« George war jetzt aufgeregt, seine Augen traten aus den Höhlen, sein Kopf wackelte wie der eines Huhns. »Mein Leben ist ein Haufen Scheiße, nichts weiter. Ein Haufen Scheiße.«
    Augenblicklich drehte sich John Harvey Kellogg zu ihm um, seine Lippen verzerrt im Schatten, der auf sein Gesicht fiel. »Du bist undankbar«, würgte er heraus. »Du, du Kind aus der Gosse mit deinem schmutzigen Mundwerk. Du Fleischfresser. Wie kannst du es wagen –?« Aber er konnte nicht weitersprechen. Es war schlecht für sein Herz, für seine Nerven, für seine Verdauung. George war der größte Fehler, den er je in seinem Leben gemacht hatte, daran bestand kein Zweifel. Und obwohl er es nicht gern zugab, wußte er zuinnerst, daß das einzig und allein seine Schuld war. Hybris, das war es gewesen.
    Vor dreizehn Jahren, nach einem Vortrag in Chicago, hatte er sich mit den Doktoren Johannes Schloh, Mortimer Carpenter und Ben Childress von der Kinderklinik der Guten Samariter zu einem vegetarischen Mittagessen begeben und sich in eine Diskussion über Kindererziehung verwickeln lassen. Carpenter und seine Kollegen behaupteten, daß es allein auf die Eltern ankomme – »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, John, um es kurz und ergreifend auszudrücken« –, aber Dr. Kellogg mit seinem messianischen Glauben an die Perfektionierbarkeit der menschlichen Rasse beharrte

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