Willkommen in Wellville
invalide. Er konnte nichts essen, nichts trinken, konnte kaum aus dem Bett aufstehen. Er nahm zwanzig Pfund ab, fünfundzwanzig; er ging nicht mehr zur Arbeit. Zweimal faßte er ins Auge, sie zu besuchen, aber sie sagte ihm ab. Beide Male. Per Telegramm. Es sei zuviel für ihre Nerven, behauptete sie. Er wisse doch, daß sie an Neurasthenie leide, und wenn ihre Nerven bloßlägen, was glaube er wohl, was das für das Baby bedeute – das Baby, das sie bereits Alfred nannten, nach seinem Vater? Nein, er solle Geduld haben. Sie werde ihm telegraphieren, wenn es soweit sei, und dann solle er sofort ins San kommen und für eine Weile bleiben.
Das Telegramm traf an einem drückendheißen Tag Anfang September ein:
BATTLE CREEK MICH. 4. SEPT. 1907
MR. WILLIAM FITZROY LIGHTBODY
PARSONAGE LANE
PETERSKILL NY
LIEBLING. STOP. EIN MÄDCHEN. STOP. SECHS PFUND, HUNDERT GRAMM. STOP. KOMM MIT DEM NÄCHSTEN ZUG. STOP.
ELEANOR
Er war auf dem Weg, stand bereits im Bahnhof von Peterskill, das Gepäck neben seinen Füßen verstreut, Battle Creek – bis zu diesem Augenblick ein ebenso unwahrscheinliches Reiseziel wie Sarawak oder die Mongolei – erwartete ihn am Ende der Fahrt, als der Wagen seines Vaters auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Bahnhof vorfuhr. Wills Vater war ein großer Mann, dick an Stellen, an denen Will dünn war, und er hatte das stoische, fleischige Gesicht eines Metzgers oder Bäckers. Als der Chauffeur dem alten Mann die Tür aufhielt und Will über den Bahnsteig hastete, warf er einen ersten Blick auf sein Gesicht – eine Trauermiene, tot und begraben zwischen den Furchen und Falten –, und er wußte, was kommen würde. Wußte es, bevor ihn sein Vater steif umarmte und ihm das zweite Telegramm aushändigte.
Das Mädchen war gestorben. In der Nacht. Niemand wußte, wie. Oder warum. Eleanor erholte sich. Sie wollte in zwei Wochen nach Hause kommen.
Stop.
Und jetzt war er hier, sieben Wochen später, der Winter hatte das Land im kalten Griff, sein Magen war kaputt, Eleanor ein Wrack, seine Tochter tot, und raste auf den Schienen Richtung Battle Creek und Kur. Er lag die Nacht über wach bis in den schlaflosen Morgen, er stieg um in Chicago und saß aufrecht da, ein ungelesenes Buch im Schoß, während Eleanor neben ihm stickte. Er sah Hügel, nackte Bäume, die gleichen Stoppelfelder, wie er sie in New York, Ohio, Indiana und Illinois gesehen hatte. Er lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen und versuchte zu dösen … Und dann kreischten die Bremsen, der Zug verlangsamte die Fahrt, als würde er an einem unendlich feinen Gummiband sanft rückwärts gezogen, und sie waren da. Eleanor zwitscherte ihm etwas zu. Will hörte es nicht. Er starrte hinauf zu den Sandsteinarkaden des kastenförmigen Bahnhofs von Battle Creek und auf das Schild, das sich wie eine Prophezeiung gegen den Himmel dahinter abhob:
WERDE EIN BESSERER MENSCH IN BATTLE CREEK
4.
VATER FÜR ALLE, VATER FÜR KEINEN
Vater. Hallo, Water.
Er wird ihm »Vater« geben – er wird ihm einen schnellen Tritt in den Hintern geben, das wird er tun. Gott, war er widerlich. Neunzehn Jahre alt und sah aus wie sechzig. Dreckig, stinkend, einer, der in Hauseingängen und finsteren Seitenstraßen schlief, wie seine Mutter vor ihm. Und roch sein Atem nicht nach Fleisch? Fleisch? Doch, natürlich roch er nach Fleisch, und dem Doktor drehte sich der Magen um.
Und seine Haltung. Seine Haltung allein genügte, um John Harvey Kellogg auf die Palme zu bringen – der eingefallene Brustkorb, die hängenden Schultern und der schlaffe Kiefer, Zehen wie Hühnerkrallen und X-Beine –, und dieser kranke, hinterfotzige Armesünderblick, der sich sogar jetzt in seine verkaterten Augen schlich. Wie oft hatte er ihn ermahnt, geradezustehen wie ein menschliches Wesen und nicht krumm daherzuschlurfen wie ein verdammter Affe? Wie oft? Und man sehe ihn sich jetzt an. Man sehe ihn sich an!
Das Publikum kam den Korridor entlang, Bigelow Jennings und Mrs. Tindermarsh führten die Meute an, suchten Blickkontakt mit ihm, und dann war da noch Dab, der die ganze Zeit mit seiner hohen, schrillen Stimme rang: »Nicht hier, Doktor, nicht hier, wo Sie jeder sehen kann.«
Die Leute begannen, auf sie aufmerksam zu werden, Mitglieder des Personals ebenso wie Patienten, manche wendeten peinlich berührt den Blick ab, andere starrten diese Mißgeburt unverhohlen an, diesen Inbegriff von Dreck und Degeneration, der wie ein giftiger Pilz zwischen ihrem Boss und
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