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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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auf einem anderen Standpunkt. Die Bedingungen formten den Menschen, versicherte er und drohte nachdrücklich mit dem Finger, jedes Kind aus dem Getto, jeder arme Unglückliche aus den Schlachthöfen oder den Barackensiedlungen, die in Abwässern zu versinken drohten, würde zu einer wertvollen und anständigen Person heranwachsen, wenn sich ihm nur die Gelegenheit dazu böte. »Geben Sie mir den schwersten Fall, den Sie finden können«, sagte er, »das benachteiligtste Kind in ganz Chicago, ich werde es aufnehmen und wie mein eigenes Kind erziehen, so wie ich die anderen erzogen habe, und ich garantiere Ihnen, es wird zu einem vorbildlichen Bürger heranwachsen. Dessen bin ich sicher, meine Herren, absolut sicher.«
    Nun, er hatte sich getäuscht.
    Sie fanden George – er wurde damals nur »Hildahs Junge« genannt, hatte weder Tauf- noch Familiennamen –, der in einer unbeheizten Hütte in einem Slum der Chicagoer South Side neben der Leiche seiner Mutter saß. Die Polizei war nicht in der Lage zu bestimmen, wie lange die Mutter schon tot war – dank des kalten Wetters war die Leiche gut erhalten –, aber die Abdrücke am Hals und die Quetschungen im Gesicht legten den Schluß nahe, daß sie nicht aufgrund natürlicher Ursachen verstorben war. Niemand wußte, wie lange der Junge schon neben ihr saß, auch nicht, welche Greueltaten er hatte mit ansehen müssen – er war sechs Jahre alt, in einen alten zerlumpten Teppich gehüllt, und er hatte noch nicht einmal sprechen gelernt. Um ihn herum lagen, verstreut wie Knochen, die Kerzenstumpen, die er gekaut hatte, um seinen nagenden Hunger zu betäuben.
    Der Doktor nahm ihn auf, nannte ihn nach Ellas Onkel und gab ihm zudem seinen eigenen Nachnamen. Zu jener Zeit hielten sich achtzehn weitere Kinder in seinem Haus auf, einschließlich vier elternloser mexikanischer Jungen, die der Doktor auf seiner Reise nach Guadalajara und Mexico City gefunden hatte, drei verwaister Mädchen, deren Mutter im San gestorben war, und ein Mulattenjunge, der mit Verbrennungen zweiten Grades an Brust, Oberschenkeln und Fußsohlen durch die Straßen von Grand Rapids gestreunt war. Des Doktors Haus oder »die Residenz«, wie es genannt wurde, war im Jahr zuvor erbaut worden, und es war groß genug, um eine Menge Menschen aufzunehmen. Es verfügte über insgesamt zwanzig Zimmer, separate Räumlichkeiten für Dr. Kellogg und seine Frau (bei all seiner Engelsgeduld gab es Zeiten, da er vor der Kakophonie piepsender Stimmen einfach die Flucht ergreifen mußte), ein Büro, eine Bibliothek, mehrere Badezimmer, einen Raum für einen Stenographen (er konnte nie vorhersagen, wann ihn das Bedürfnis, ein Buch zu diktieren, überkam), ein kleines Labor und einen Gymnastikraum für die Kinder.
    Die Kinder schliefen getrennt nach Alter und Geschlecht in Schlafsälen, San-Schwestern und Mitglieder des Personals versorgten und erzogen sie, und sie bekamen die schlichte, bodenständige Verpflegung des Vie simple, angefangen mit gymnastischen Übungen am Morgen bis zu Rote-Bete-Soufflé, Okrasuppe und Hundert-Gramm-Portionen gebackenen Maisbreis am Abend. Selbstverständlich wurde erwartet, daß sie arbeiteten – John Harvey Kellogg war fest von zwei Dingen überzeugt: daß Arbeit den Charakter bilde und nichts umsonst zu haben sei. Die jüngeren Kinder mußten Arbeiten in Haushalt, Hof und Garten übernehmen, während die älteren aufgefordert waren, nach der Schule im San zu arbeiten.
    Und sie entwickelten sich. Alle. Zwei der mexikanischen Kinder – die Rodriguez-Jungen – wurden selbst Ärzte, ein halbes Dutzend Mädchen ergriff den Beruf der Krankenschwester. Sie sprachen artig, hielten ihre Zimmer in Ordnung, sahen stets vorzeigbar aus. Der Doktor war stolz auf sie – sie waren so sehr seine Errungenschaft, seine Erfindung wie die Corn-flakes oder die elektrische Heizdecke, und sie machten Battle Creek, dem Sanatorium und dem riesigen, fortschrittlichen demokratischen Land, in dem sie herangewachsen waren, alle Ehre. Alle, bis auf George.
    Von Anfang an war er störrisch und unzugänglich, die Sorte Junge, die sich eher die Zunge abbeißen würde, als zu lächeln. Er wollte – oder konnte – nicht sprechen, riß Seiten aus seinen Büchern, beschmierte sein Pult im Schulzimmer, nahm die Geräte im Gymnastikraum auseinander und legte sich unablässig und erbarmungslos mit den anderen Kindern an. Zu klein für sein Alter, immer schmutzig, obwohl der Doktor persönlich über die Reinlichkeit der

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