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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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seinem Sekretär aus dem Boden geschossen war. Es war zum Verrücktwerden, wirklich. Eine Weile stand der Doktor wie gelähmt mitten auf dem breiten, glänzenden Marmorfußboden, der Mann der Tat, der Kämpfer für Sauberkeit und Anstand quietschend zum Stillstand gebracht. »George«, sagte er schließlich flüsternd, und er sprach den Namen aus, fast ohne es zu wollen, als könnte er es nicht ertragen, diesen Klumpen Kot, den er da vor sich sah, als Person anzuerkennen.
    George sagte nichts. Er lehnte nur an der Wand, zerlumpt und krumm, häßlich wie eine Rübe, und grinste, um seine gelben Zähne und das verfaulte Zahnfleisch vorzuführen.
    Das war zuviel. Der Junge war ein wandelnder, sprechender Alptraum, eine lebende Zurückweisung von und eine Antithese zu allem, wofür Dr. Kellogg und das Sanatorium standen, eine Beleidigung, eine Provokation, ein Schlag ins Gesicht. Plötzlich, bevor er wußte, was er tat, schnellte des Doktors Hand vor und schnappte seinen Arm, und im nächsten Augenblick hasteten sie den Korridor entlang zur Eingangshalle. George versuchte trotzig, zurückzubleiben, aber der Griff des Doktors war eisern. »Komm raus hier, George, komm raus hier, sofort« ,zischte er.
    »Ich will Geld«, geiferte George und entblößte dabei wieder die Zähne, und der Doktor zerrte an seinem Arm wie an der Leine eines halsstarrigen Hundes.
    Durch die Halle, dachte der Doktor, und in mein Büro auf der anderen Seite, hundertzwanzig Stufen, bis wir in Sicherheit sind. Sie werden denken, daß er ein Fall für die Wohlfahrt ist, mehr nicht, und dann wird er verschwinden, zur Tür und in die Nacht hinaus. »Geld«, brummte er, warf ihm das Wort aus dem Mundwinkel zurück. »Von mir kriegst du keinen Pfennig mehr.«
    George ging jetzt neben ihm, ein ausgewachsener Mann mit langen Beinen und trotz seiner miserablen Haltung einen guten Kopf größer als der Doktor. »Das werden wir ja sehen«, sagte er und grinste höhnisch.
    Sie verließen den Korridor und betraten die riesige Halle mit den unter dem Gewicht der Koffer schwankenden Pagen, den Sofas und Palmen, den Gepäckbergen und Neuankömmlingen. Gruppen von Patienten saßen herum, nippten zufrieden an langstieligen Gläsern mit Milch oder Pfirsichnektar, Schwestern beugten sich über hypochondrische ältere Damen in Rollstühlen, im Flüsterton wurde von Aktien gesprochen, vom Theater, von Caruso und Farrar und den neuesten Automodellen von Ford und Olds. Dort stand Dr. Baculum mit dieser Frau aus Pittsburgh, der Frau des Stahlmagnaten, wie hieß sie doch gleich – Wallford? Walters? Walldorp? –, und Admiral Nieblock hielt sich am Telegrammschalter auf, zusammen mit dieser Crouder, einer Schar Schwestern, Meta Sinclair. Dr. Kellogg durchquerte zielstrebig die Halle, nickte, winkte, alles in bester Ordnung, er hatte es nur ein bißchen eilig, das war alles, und einen armen Unglücklichen im Schlepptau, und natürlich wußte er, daß sie diese Seite der Dinge nicht sehen wollten, aber das Sanatorium war nun mal eine wohltätige Einrichtung, und ihr Boss war ein Heiliger, das mußten sie verstehen, ein wahrer Heiliger.
    Auf halbem Weg – mindestens fünfzig Leute drängten sich um die Rezeption, die Treppe, saßen auf den Sofas, gingen auf der anderen Seite im Palmengarten ein und aus – entriß George seinen Arm dem Griff des Doktors und blieb stehen. »Einhundert Dollar, Dad, Pater, Pa – einhundert Dollar, oder ich werde mir hier auf der Stelle die Lunge herausschreien.«
    Fünfzig Augenpaare ruhten auf ihnen, der Doktor war ganz Grinsen und Lächeln, verteilte Kußhände, zwinkerte, winkte, nickte, alles unter Kontrolle. Ein scharfer Blick auf den Sohn: »In meinem Büro. Dort werden wir darüber reden.«
    Dab drängte sie weiter. George wollte sich nicht von der Stelle rühren. »SOLL ICH«, bellte er plötzlich los, seine Stimme ein zackiger Riß im eleganten Gewebe des Raums, bevor er sie wieder zu einem Flüstern senkte, »soll ich laut werden?«
    Niemand gewann die Oberhand über John Harvey Kellogg, niemand. Er war Herr und Meister all dessen, was er überblickte, Boss, König, Beichtvater und Patriarch für Tausende von dyspeptischen Patienten und zweiundvierzig Kinder, die er und Ella im Lauf der Jahre adoptiert hatten. Es gab Charlie Posts auf der Welt, na gut, es gab seinen Bruder Will, der ihm die Corn-flakes-Konzession vor der Nase weggekauft hatte, es gab die Phelpses und die Macfaddens und die übrigen, und vielleicht gewannen sie

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