Willkommen in Wellville
Kinder wachte, die Augen umwölkt von Schmerz und Wut, war er ein kleiner Wirbelsturm der Unordnung und des Kummers.
Dr. Kellogg entschied sich für einen Kurs, der in späteren Jahren unter dem Namen Verhaltensmodifikation bekannt wurde. Er setzte an bei Georges Schlamperei. Jeden Tag kam der Junge von draußen herein und ließ im rückwärtigen Flur seine Jacke einfach auf den Boden fallen, während alle anderen Kinder, sogar die vierjährige Rebecca Biehn, ihre Kleider an die dafür vorgesehenen Haken in ihren Zimmern hängten. Eine Kleinigkeit. Aber eine, wie der Doktor meinte, die allem anderen zugrunde lag.
Als George am nächsten Tag von der Schule kam – es war genau ein Monat vergangen, seitdem der Doktor ihn aufgenommen hatte –, erwartete ihn John Harvey Kellogg. Es spielte keine Rolle, daß der Doktor dringende Geschäfte im Sanatorium zu erledigen hatte, es spielte keine Rolle, daß er die Termine für eine ganze Reihe Operationen und eine Personalbesprechung hatte verlegen und die Erledigung seiner umfangreichen Korrespondenz hatte aufschieben müssen: Die Erziehung des Jungen – die Erziehung dieses Jungen – sollte ihren Anfang nehmen. Zwei Mädchen aus dem San führten die jüngeren Kinder durch den rückwärtigen Flur und die Treppe hinauf in ihre Zimmer, und die Kinder folgten ihnen gehorsam – und verantwortungsbewußt. Es gab kein Geschiebe und Gestoße, kein Geschrei, kein Gehopse und Herumgetolle, kein Getrotte und Gehüpfe, kein Gerenne. Die Jacken wurden erst oben, in Reichweite der Haken ausgezogen – so lautete die Regel. George kam wie gewöhnlich als letzter herein.
Wenn die Kinder überrascht waren, den Doktor zu so ungewöhnlicher Stunde auf der Bank in der Ecke sitzen zu sehen, so ließen sie es sich nicht anmerken. Ein paar der Jüngeren – insbesondere die kleine Rebecca – warfen ihm schüchtern einen Blick zu, aber sie waren zu schlau, als daß sie sich in Gegenwart ihres Patriarchen und Versorgers auffällig benommen hätten. Der Doktor mochte keinen Lärm. Das wußten sie.
George ließ den Kopf hängen. Er ließ den Kopf immer hängen, als wäre der Boden faszinierender als die große weite Welt um ihn herum, und das störte den Doktor, nicht nur weil es die Einstellung des Jungen widerspiegelte, sondern weil es für seine nicht hinnehmbare Haltung verantwortlich war. Mit gesenktem Kopf konnte George seinen im Schatten sitzenden Adoptivvater nicht sehen, und selbstverständlich schlüpfte er so sorglos, als wäre er ein angezogener Affe im Urwald, aus seiner Jacke und ließ sie hinter sich auf den Boden fallen.
»George«, rief der Doktor im Tonfall der Autorität, »George Kellogg.«
Ein Fuß des Jungen stand auf der untersten Stufe. Die anderen Kinder gingen unter Führung der Schwestern, mit denen der Doktor zuvor konferiert hatte, geradewegs die Treppe hinauf und in ihre Zimmer. George blieb stehen, betrachtete eine ganze Weile seinen erhöhten Fuß und wandte dann langsam den Kopf, bis sein Blick dem des Doktors begegnete.
»So ist’s recht«, sagte der Doktor und versuchte, milder dreinzusehen. Der Junge reagierte schließlich doch auf die englische Sprache, und außerdem, rief sich der Doktor ins Gedächtnis, hatte er in Gott weiß was für Dreck und Lasterhaftigkeit gelebt. Mit beiden Händen winkte er ihn zu sich. »Komm her, George«, wies er ihn an, »komm her. Ich werd’ dich schon nicht beißen.«
Der Junge sah wieder zu Boden. Er ließ den Kopf hängen, scharrte mit den Füßen, schlurfte daher, geduckt wie ein geprügelter Hund – all das tat er, sicher, aber er kam, und er schien ihn zu verstehen.
Der Doktor neigte nicht zu körperlicher Expressivität – es war eine seiner Marotten, eine, der er sich nicht einmal bewußt war. Tief in seinem Innern leugnete er einfach das Bedürfnis nach physischem, zwischenmenschlichem Kontakt, der über einen geschäftsmäßigen Händedruck oder das Küßchen des Ehemanns auf die Wange der Ehefrau hinausging. Berührung war unvermeidlich, das war ihm klar, aber auf diese Weise verbreiteten sich auch ansteckende Krankheiten. Das Resultat war, daß der Doktor, als George den Raum durchquert hatte und vor ihm stand, ihn nicht in die Arme nehmen und ihm seine Missetat erklären konnte. Statt dessen erhob er sich, machte ein paar nervöse Handbewegungen und sah hinunter auf das Haupt des kleinen Jungen. »George«, begann er, »ich wünschte wirklich, du würdest mit mir sprechen und mit Mrs. Kellogg, mit den
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