Willkommen in Wellville
nichts, dachte, daß er sie umarmen, sie zurückfordern wollte, genau hier, mitten in diesem Raum.
Eleanor stand aufrecht neben dem Tisch, und sie sah nicht mehr erschrocken und auch nicht mehr ärgerlich aus. Nein, sie sah verlegen aus, nur verlegen.
6.
DIE GRÖSSTE KLEINSTADT IN DEN USA
Charlie Ossining war ein bißchen spät dran.
Nicht, daß der Zug Verspätung hatte – er fuhr absolut fahrplanmäßig in den Bahnhof an der Hauptstraße von Battle Creek ein, die Bremsen quietschten, Dampfwolken stiegen auf, hinter den vom satten Atem der Vertreter, Grundstücksmakler und Frühstückskostmagnaten beschlagenen Fenstern erstrahlte die Stadt wie ein Schmuckstück. Als er sich vorbeugte, um aus dem Fenster zu spähen, spürte Charlie, wie sich sein Magen vor Aufregung zusammenzog, und für einen Augenblick schmeckte er in der Kehle sein Abendessen noch einmal – Zungen-Sandwich und sauer Eingelegtes. Da war es: Battle Creek. Die dicke, fette Goldader. Er blickte empor zu dem sanft hin- und herschwingenden Schild, das die ortsansässigen Werbestrategen aufgehängt hatten, und fühlte sich direkt angesprochen. Er würde wirklich ein besserer Mensch werden, dessen war er sich sicher, ebenso wie er sich sicher war, daß Mrs. Hookstrattens 3849 Dollar – na gut, 3846,55 Dollar nach den Trinkgeldern für den Schaffner, den Kellner und den Drinks und Sandwiches im Clubwagen – nur der erste Goldklumpen aus dem Berg waren, den zu erobern seine Bestimmung war. Das war seine Chance, und es war der richtige Ort. Battle Creek, die Größte Kleinstadt in den USA, Frühstücksflockenschüssel der Welt, Lebensmittelstadt. »Absolut pünktlich«, murmelte ihm ein Mann mit Melone und Überzieher ins Ohr, und im nächsten Moment stieg er aus und befand sich in der aufregend kalten, sternenübersäten Nacht des Mittleren Westen.
Auf dem Bahnsteig herrschte ein Durcheinander von Geschäftsmännern, Gesundheitsaposteln, Hausierern, Droschkenkutschern, Gepäckträgern, Zeitungsjungen, Schuhputzerjungen, Jungen, deren Anwesenheit durch keinerlei Zweck gerechtfertigt schien, und sie alle strebten anscheinend zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung. Charlie stand verwirrt mitten in der Menge, preßte seine Reisetasche aus Krokodillederimitation an die Brust und hielt mit einem Auge Ausschau nach dem Neger mit seinem Koffer und mit dem anderen nach Bender. »Cyrus!« rief eine Frau neben ihm. »Ju-huu, Cyrus! Hier bin ich!« Charlie sah zu, wie sich die anonymen Fahrgäste an lebhafte Gesichter preßten und sich in den ausgestreckten Armen derer wiederfanden, die gekommen waren, um in der Kälte auf sie zu warten, und er fühlte sich unsicherer als je zuvor, sorgte sich um seinen Koffer und die Höhe des Trinkgelds, das er dem Gepäckträger würde in die Hand drücken müssen, und darüber, wo er die Nacht verbringen sollte. Er verspürte einen Stich des Bedauerns, als der Mann mit der Melone an ihm vorbeilief und sich in die Arme einer netten kleinen Frau mit Hut und Muff warf, während sich ein ungefähr sechsjähriger Junge an seine Beine klammerte und »Papa! Papa!« zwitscherte. Und wo war Bender? Seine ganze Vorfreude schien in diesem Augenblick schal zu werden, und plötzlich sehnte er sich in die anheimelnde Enge des Clubwagens zurück.
In diesem Augenblick bemerkte er die Frau namens Lightbody. Sie stieg wie eine Königin aus einem Waggon ganz in der Nähe, aufregend in ihrem Pelz, und der Schaffner tänzelte um ihre behandschuhte Hand herum, als wäre sie gerade aus den Wolken herabgestiegen. Hinter ihr kam dieser Tölpel von Ehemann, dessen Kopf in der Leere wie ein Luftballon an einer Schnur schwebte, gefolgt von einem Trio von Gepäckträgern, die unter der Last von Reisetaschen, Handtaschen, Hutschachteln und großen Koffern – alle aus dem gleichen Leder und mit Monogramm – ächzten. Vertrauenswürdige Investoren können ein kleines Aktienpaket erwerben, dachte Charlie und bemerkte, daß er direkt in Eleanor Lightbodys funkelnde Augen starrte. Er lächelte, lüpfte den Hut zum Gruß. Sie erwiderte den Gruß mit einem kurzen Kopfnicken und einem eigenen Lächeln, und dann torkelte ihr Mann wie ein Blinder, wie eine lebende Leiche zwischen sie, die Gepäckträger füllten die Lücke, und sie waren verschwunden. Charlie beobachtete, wie die kleine Gruppe ihre Schritte durch die bereits sich lichtende Menge lenkte, durch den Wartesaal und hinaus auf die Straße marschierte, wo ein Automobil vorfuhr, um sie
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