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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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war, spürte, wie ihn jemand am Ärmel zog.
    Das war zuviel. Wirklich. Wofür hielten sie ihn – einen Bauerntölpel? Einen Einfaltspinsel? Einen Trottel? Wütend wirbelte er herum zu einem weiteren Kind, dessen Arm er dabei abschüttelte. »Verschwinde«, sagte er, und seine Stimme klang rauh, weil ihm die angestaute Wut schier die Kehle zuschnürte.
    Der Junge wich nicht zurück. Er trug kurze Hosen, und seine Lippen zitterten vor Kälte. Aus seiner Nase flossen zwei Rotzströme. »Sind Sie Charlie Ossining?« fragte er mit kaum merklich brechender Stimme.
    Charlie nickte müde und seufzte resigniert. Das also war Benders Abgesandter, das war sein Empfang, das war sein erster großer Auftritt in der Größten Kleinstadt in den USA.
    »Mr. Bender sagt, Sie sollen mit mir mitkommen«, quiekte der Junge und streckte eine rauhe, magere kleine Hand aus, um Charlie die Reisetasche abzunehmen.
    Erleichtert – zumindest hatte ihn Bender nicht vergessen – ließ sich Charlie erweichen und reichte ihm die Tasche, aber als er sich kurz auf der Straße umsah und weder Droschke noch Fuhrwerk entdeckte, schäumte die Wut wieder in ihm auf. »Und was ist mit meinem Koffer?«
    Der Junge blickte auf seine Schuhe. Seine Stimme klang wie das Flüstern in einem Schrank auf der anderen Straßenseite. »Ich glaube nicht, daß ich ihn tragen kann, Sir.«
     
    Bei heulendem Wind gingen sie zwanzig Block weit, der Junge vornübergebeugt und schniefend, Charlie unter dem Gewicht seines Koffers torkelnd wie ein Betrunkener. Er hatte es geschafft, das Ding auf die schwankende Plattform seines gebeugten Rückens zu hieven, und er hielt es in Position, indem er sein Steißbein als Stopper benutzte und die Griffe über seinen Schultern mit zwei tauben, krallengleichen Händen umklammerte. Sie waren noch keine anderthalb Block weit gegangen, da spürte er schon den blechverstärkten Rahmen des Koffers, der sich durch Überzieher, Jackett, Weste und Hemd grub, um sich mit messerscharfer Präzision in sein Rückgrat und seine Hüften zu bohren. »Wohin führst du mich, Junge – zum Nordpol?« keuchte er.
    Der Junge schlurfte weiter, den Kopf gesenkt; der Boden der Reisetasche aus Krokodillederimitation schleifte die harte Eiskruste entlang, die sich auf den Bohlen des hölzernen Gehwegs gebildet hatte. »Es ist nicht weit«, rief er mit kläglich meckernder Stimme, und die Fetzen seines Atems strömten hinter ihm her.
    Nicht weit? Zehn Block später schleppten sie sich immer noch dahin, und jeder Nerv in Charlies Körper war zum Leben erweckt infolge der quälenden Schmerzen, die durch seine Gliedmaßen schossen und wie ein Elmsfeuer sein Rückgrat hinauf- und hinunterliefen. Seine Füße waren abgestorben, Eisblöcke, Steine, Gletscherschutt, die Nase nur noch eine ferne Erinnerung, die Finger für immer zu Haken gebogen. Die Lichter der Stadt lagen hinter ihnen, der Gehsteig war in Furchen gefrorenen Schlamms übergegangen, und die Häuser wurden zunehmend weniger. »Himmel, Arsch und Zwirn«, brummte er, ließ den Koffer mit einem leisen, kalten, dumpfen Schlag auf den Boden fallen und versuchte, wider allen gesunden Menschenverstand und jegliche Gewöhnung seinen Rücken geradezubiegen. »He, Junge!« brüllte er in die Nacht, »wo zum Teufel bringst du mich hin?«
    Der Junge war wie ein Maulesel in der Tretmühle, fixiert, ohne Sinn und Verstand, und seine spindeldürren Beine mit den löchrigen Socken und in den ausgefransten Kniehosen stapften wie von selbst weiter. Widerwillig wandte er den Kopf, ging langsamer, blieb aber noch nicht stehen. »Nur noch ein kleines Stück«, röchelte er. »Dort oben, vor uns – sehn Sie die Lichter?«
    In ein paar Block Entfernung – die Straße vor ihnen war auf beiden Seiten unbeleuchtet – glühte hell und durchdringend elektrisches Licht, als kämen sie in eine völlig andere Stadt. Waren sie den ganzen Weg nach Ypsilanti zu Fuß gegangen? Jedenfalls kam es ihm so vor. »Was ist das?« fragte er und zog den Kragen enger um den Hals.
    Der Junge war jetzt stehengeblieben, zehn Schritte vor ihm. »Das ist die Weiße Stadt.«
    Die Weiße Stadt. Selbst der eben erst angekommene Charlie hatte von der Weißen Stadt gehört, hatte von ihr sogar geträumt. Das war das Zuhause von Postum and Grape-Nuts, die Drehscheibe von C.W. Posts Imperium, ein Industriegebiet und Wohnviertel, so unverfälscht und hell beleuchtet, daß es nach der ruhmreichen »Weißen Stadt« der Weltausstellung von 1893 in Chicago

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