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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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»Toast«, wiederholte Will entschlossen. »Trocken. Das ist alles, danke.«
    Plötzlich nachgiebig, zogen sich die Mädchen zurück. Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, starrte er in Miss Muntz’ erschrockene gelbe Augen, bis sie sich abrupt zu dem zwiebelköpfigen Russen umdrehte und vom Wetter zu sprechen begann – war es nicht schrecklich kalt für diese Jahreszeit? Der Engländer war plötzlich in die Betrachtung seiner Manschetten vertieft, und Mrs. Tindermarsh starrte zum Fenster hinaus ins Leere. Homer Praetz, so stellte er fest, kaute gewissenhaft irgend etwas, was vage organisch aussah. Und dann, in diesem Augenblick relativer Ruhe, dachte Will wieder an Eleanor. Wo war sie? Warum war sie nicht an seinen Tisch gekommen, um ihm einen guten Morgen zu wünschen? War das die Kellogg-Methode – einen Keil zwischen Mann und Frau zu treiben? Sie zu trennen? Nun, er wollte verdammt sein, wenn er hier sitzen bliebe und seinen Toast ohne sie äße.
    Er war gerade am Aufstehen, als die Kellnerin mit seinem Toast und einem Glas Kumyß für Mrs. Tindermarsh zurückkehrte. Widerwillig setzte er sich wieder und blickte sich dabei über die Schulter nach Eleanor um. Sie war nirgendwo zu sehen. Im Gegensatz zu anderen Frauen – Hunderte von ihnen, im Alter zwischen Fünfzehn und Achtzig, ausnahmslos alle nach der neuesten Mode gekleidet (selbstverständlich mit den Modifikationen, auf denen ihr Boss bestand), nahmen angeregt ein gesundes, geselliges Mahl ein. Ihr Geplapper klang elektrisch, alles durchdringend, wie das Summen eines Insektenschwarms, der auf die Kreuzung von Nachmittag und Abend zubrummt. Will neigte den Kopf und hob griesgrämig den Toast an den Mund.
    Kaum hatte er einen Bissen hinuntergeschluckt, als sein Magen zu grollen anfing – nicht nur zu grollen, sondern zu knurren und zu spucken wie ein Tier in einem Käfig, das mit einem Stecken gereizt wird. »Runter damit, Junge!« rief der Engländer und führte dem Tisch seine Pferdezähne vor. Miss Muntz hob eine hübsche grüne Hand an den Mund und kicherte. Will bedachte alle mit einem kränklichen Grinsen und mampfte seinen Toast.
    Gerade wollte er ein zweites Stück verbranntes Brot zum Mund führen – sein Magen rumorte wie der Vesuv, und seine belegte Zunge schwoll an –, als er den Druck einer Hand auf der Schulter spürte und sich umdrehte, um in ein großes, gewitztes, kugelrundes Gesicht zu blicken, das über ihm hing wie eine chinesische Laterne. Das rötliche Gesicht gehörte zu einem Mann mit schneeweißem Haar, der nach demselben Muster wie der Boss gebaut war – das heißt untersetzt, kurz und in der Mitte etwas auseinandergegangen. Der Mann ließ seine Hand auf Wills Schulter liegen. Sein scharfsinniger Ausdruck wurde fast auf der Stelle von einer konsternierten Miene abgelöst, und dann stieß er feuchte, gackernde Laute aus. »Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte er und drohte mit dem Finger, »Sie machen es ganz falsch.«
    Will war verdutzt. Kannte er diesen Mann? Er betrachtete die glühenden blauen Augen, die festen Backen, das völlig farblose Haar, das um den großen Kürbis seines Kopfes herumtanzte … Wenn er es sich recht überlegte, kam er ihm vage bekannt vor …
    »Kauen Sie!« sagte der Mann im Befehlston. »Kauen!« rief er, und seine Stimme schraubte sich wie ein Korkenzieher nach oben. »Kauen! Fletcherisieren!« Und er nahm die Hand von Wills Schulter, um auf das drei Meter lange Banner zu deuten, das auf der anderen Saalseite über dem Eingang an der Wand hing. Die großen schwarzen Buchstaben auf dem ein Meter breiten Banner wiederholten die Mahnung des untersetzten kleinen Mannes:
     
    FLETCHERISIEREN!
     
    Will dämmerte es. Das war niemand anders als Horace B. Fletcher selbst, der in all der Herrlichkeit seiner Kauwerkzeuge vor ihm stand. Will kannte ihn – natürlich kannte er ihn. Gab es in ganz Amerika einen Mann, eine Frau oder ein Kind, irgend jemanden, der ihn nicht kannte? Fletcher war das der Naturheilkunde anhängende Genie, das der Welt das einzigartige und fundamentalste Prinzip guter Gesundheit, sinnvoller Ernährungsweise und optimaler Verdauung offenbart hatte: kauen. Gründliches Kauen. Fletcher hielt dafür (und Dr. Kellogg pflichtete ihm aus ganzem Herzen bei), daß die totale Verdauung des Essens im Mund fast ein Allheilmittel bei Verdauungsstörungen und Erkrankungen des Magens war. Und er war nicht damit zufrieden, daß jeder Bissen einmal für jeden der zweiunddreißig Zähne im

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