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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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tausend halt- und willenlose Stücke zerriß.
    Er war noch keine fünf Schritte gegangen, als er eine Hand auf seinem Arm spürte.
    Die Hand gehörte zu einem Mann, der ungefähr so alt war wie er selbst – vierundzwanzig, vielleicht fünfundzwanzig –, und sie übte einen Druck aus, der sowohl um Verzeihung bat als auch etwas Einschmeichelndes hatte. »Entschuldigen Sie, mein Freund«, sagte der Mann, »haben Sie vielleicht ein Streichholz?«
    Charlie hatte Streichhölzer, und er stellte die Reisetasche ab, blinzelte im Rauch seiner Zigarette, um sie hervorzuholen. Als er die Flamme an die frisch angeschnittene Zigarre des Fremden hielt, fiel ihm dessen Bekleidung auf – der enggeschnittene Anzug aus einem hochmodischen, braun-grau karierten Wollstoff unter dem flauschig gefütterten Überzieher, ein rosa-weiß gestreiftes Hemd, wie es auch Charlie trug, der elegante graue Filzhut, der so fesch auf seinem Kopf saß, als wäre er damit auf die Welt gekommen. Charlie war überrascht. Hier war er, im Hinterland, und der erste Mann, dem er begegnete, hätte einer der Klassetypen sein können, die sich in den Theatern am Broadway oder im Vergnügungspark von Coney Island herumtrieben – nie hätte er damit gerechnet, daß sich die Leute hier im Mittleren Westen so schick kleideten. Er hatte mit Hinterwäldlern, Bauerntölpeln und Cowboys gerechnet.
    Der Mann atmete zufrieden aus. »Ich danke Ihnen«, sagte er, »vielen herzlichen Dank.« Dann streckte er ihm die Hand entgegen. »Harry Delahoussaye«, sagte er. »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Charlie schüttelte die Hand und stellte sich vor, und dann blickte er auf und sah, wie der Gepäckträger gähnte und seine Taschenuhr konsultierte. »Entschuldigen Sie«, sagte Charlie, »ich muß –«
    »Oh, kein Problem«, erwiderte Delahoussaye, »ich verstehe. Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte, hä?«
    Ja, ganz richtig: Geschäfte. Charlie war der Geschäfte wegen hier. Großer Geschäfte wegen. Er fühlte sich geschmeichelt, bedeutend, fühlte sich wie der geschäftsführende Direktor der Per-Fo Company. Er überlegte kurz, ob er dem Mann eine Visitenkarte geben sollte.
    »Ich habe es an Ihrer Kleidung, Ihrem Auftreten erkannt«, sagte Delahoussaye. »Sie kommen gerade aus einer Großstadt, nicht wahr? Philadelphia? Chicago? New York?«
    »New York«, flüsterte Charlie, und die Worte kamen ihm wie Balsam über die Lippen, beruhigend, beschützend, Worte, die seine intime Verbindung mit dieser großartigen Stadt, mit ihrem Glanz und Reichtum belegten.
    »Hab’ ich mir doch gedacht. Hab’ ich mir wirklich gedacht.« Und dann, bevor Charlie es bemerkte, hatte ihn Delahoussaye wieder am Ellbogen gefaßt. »Hören Sie, ein Mann wie Sie, ein Geschäftsmann, Sie müssen doch an einer guten Gelegenheit interessiert sein, wenn sie sich Ihnen bietet, habe ich recht?«
    Vom Ende des Bahnsteigs wehte eine BÖ heran und warf Charlie eine Handvoll Schlacke ins Gesicht. Charlie hatte jetzt begriffen – das war eine Masche, eine weitere Masche. Die Erkenntnis betrübte ihn, schmetterte ihn nieder, nahm einen Pflock und trieb ihn mitten ins Herz des geschrumpften kleinen Ballons Optimismus, den er noch immer mit sich trug.
    »Wovon ich spreche, Charlie, ist Push, die neueste und beste Frühstückskost von Battle Creek – und nur ein Dollar fünfundzwanzig pro Aktie. Ein Mann wie Sie – Sie wollen gewiß ein ganzes Aktienpaket, und ich kann Ihnen dabei helfen, das ist gar kein Problem. Wie viele darf ich für Sie reservieren? Sie erweisen sich einen großen Gefallen, glauben Sie mir.«
    Ohne ein Wort hob Charlie seine Reisetasche auf und setzte sich wieder in Bewegung. »He«, rief Delahoussaye seinem Rücken zu, »ich kann Ihnen Vita-Malta besorgen für fünfundsiebzig –«
    Dem Gepäckträger gegenüber war Charlie kurz angebunden. Er gab ihm einen Penny Trinkgeld und zerrte den Koffer eigenhändig durch den Wartesaal und hinaus auf die kalte, von Gaslampen erhellte Straße. Die Menge hatte sich mittlerweile zerstreut, und Charlie stand allein auf dem Gehweg – sogar die wenigen von Pferden gezogenen Droschken waren die Straße hinuntergezockelt. Es gab eine Straßenbahn, aber Charlie hatte keine Ahnung, wohin er fahren mußte – Bender logierte im Post Tavern Hotel, das war alles, was er wußte. Er wollte sich gerade bei einem alten Mann mit wäßrigen Augen und tabakbeflecktem Bart nach dem Weg erkundigen, als er zum drittenmal, seitdem er dem Zug entstiegen

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