Willkommen in Wellville
menschlichen Mund gekaut wurde, obwohl er immerhin zugestand, daß es sich hierbei um einen ganz guten Anfang handelte, sondern jeder Bissen sollte fünfzig-, sechzig- oder gar siebzigmal gekaut werden, bis er sich im Mund aufgelöst hatte, sich das »Nahrungstor« öffnete und der Bissen verschwunden war. Mit einem Schrei der Begeisterung hatte der gesamte Verdauungsklüngel diese schlichte, aber folgenschwere Entdeckung angenommen. Und hier stand diese gefeierte Figur, dieser Held der Mundhöhle, inmitten des mit berühmten Persönlichkeiten gefüllten Speisesaals vor Will und weihte ihn am Beispiel eines Toaststückchens in die Feinheiten des Kauens ein. Wider Willen war Will beeindruckt.
Er kaute langsam und bedächtig, kaute, wie er nie zuvor gekaut hatte. Horace B. Fletcher leitete ihn mit fließenden Tönen rhythmisch an: »… zehn, elf, zwölf – so ist’s recht –, dreizehn, vierzehn, ja, genau.« Und obwohl er völlig konzentriert war, spürte Will die Berührung der kräftigen, breiten Finger des Großen Kauers, die sich sanft um seinen Nacken legten und seinen Kopf nach unten zwangen, in die richtige Fletcherisierposition. Will kaute. Und kaute. Bei zwanzig spürte er einen stechenden Schmerz in einem der unteren Backenzähne; bei fünfundzwanzig war seine Zunge taub; bei dreißig war der Toast Brei; bei fünfunddreißig war er Wasser; bei vierzig begann sein Unterkiefer zu schmerzen, und der Toast war Spucke. Und dann, wundersamerweise, war er verschwunden.
Der ganze Tisch beobachtete schweigend diesen Vorgang. Als er beendet war und Will vorsichtig den Kopf hob, gab ihm der Große Kauer als Glückwunsch einen Klaps auf den Rücken, zwinkerte mit einem scharfen blauen Auge und schlenderte hochzufrieden davon. Will bemerkte, daß Mrs. Tindermarsh ihn anstrahlte – alle strahlten ihn an, der ganze Tisch. Einen Augenblick glaubte er, sie würden in Applaus ausbrechen. Es war ihm rätselhaft, wie der schlichte Akt des Zermalmens von einem Stückchen Toast sie so in Aufregung versetzen konnte, aber er freute sich trotzdem, und als er sich vorbeugte, um die Vorstellung zu wiederholen, lächelte er schüchtern.
Es sollte nicht sein. Denn in diesem Moment übertönte eine Stimme für einen kurzen Augenblick das allgemeine Stimmengewirr – eine Stimme, die er so gut kannte wie seine eigene –, und er schnellte wie elektrisiert auf seinem Stuhl herum. Eleanor. Und dann war er auf den Beinen, hatte den Stuhl zurückgeschoben und hielt in der Menge nach ihr Ausschau. Und wieder hörte er die Stimme, die diesmal eine witzige Bemerkung parierte und sich dann in dem musikalischen leisen Lachen verlor, das er bereits vermißte. Eleanor. Essende Häupter senkten und hoben sich, Kellnerinnen servierten, Diätassistentinnen gaben diätistische Ratschläge. Will hatte plötzlich Angst, er hatte Angst, und ihm war schlecht. »Eleanor!« schrie er wie ein mutterloses Kalb. »Eleanor!«
In diesem Augenblick sah er sie. Erschrocken stand sie von einem keine zehn Meter entfernten Tisch auf, ihr dunkles, seidiges Haar aufgetürmt auf ihrem Kopf, und die flinken grünen Augen fixierten ihn mit einem entsetzten und warnenden Blick. Nicht hier, mahnte ihn dieser Blick, nicht jetzt. Er bemerkte die Gesichter ihrer Tischnachbarn, die ihn anstarrten, eine distinguierte Gesellschaft, eine brillante Gesellschaft, zweifellos. Und wer war das neben ihr, die Serviette chirurgisch akkurat im Schoß gefaltet? Wer war das mit dem flachsfarbenen Haar und dem unnachgiebigen Kiefer? Wer war das mit den perfekten Zähnen und den feinfühligen heilenden Händen?
Nicht hier, nicht jetzt.
Will war das gleichgültig. Er schlurfte bereits auf sie zu, die Faust in seinem Magen schlug auf ihn ein, als wollte sie sich einen Weg hinaus erzwingen – er wollte nicht hiersein, er wollte nicht in Battle Creek sein, wollte nicht an einem Ort sein, an dem seine Frau nicht für ihn da war und die Leute ihm zeigen mußten, wie er seinen Toast zu kauen hatte. Er wußte nicht, was er tat – seit zehn Stunden hatte er sie nicht mehr gesehen, seit zehn Stunden, nicht länger, und schon zerfloß er vor lauter Verlustgefühlen und Selbstmitleid. »Eleanor!« rief er.
Alle beobachteten ihn, alle diese gesalbten, gegängelten Fletcherisierer, und mit einemmal war ihm das gleichgültig. Er stolperte gegen einen Stuhl, auf dem ein regloser, fetter Mann saß, prallte davon ab und spürte, wie alle Kraft aus seinen Beinen wich. Doch er taumelte weiter, dachte
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