Willkommen in Wellville
entdeckte er den Jungen – er stand noch immer draußen auf der Straße, drückte sich mit hängenden Schultern im Schatten herum. »Was ist los?« rief Charlie und ging zurück zu der Stelle, wo der Junge vornübergebeugt auf der Straße stand.
»Nichts.«
»Kommst du nicht mit rein?«
Der Junge wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Ich geh’ zum Dienstboteneingang rein«, murmelte er, »wenn mich Mr. Bender braucht. Außerdem muß ich morgen in die Schule.«
Schule. Charlie spürte, wie sich ein schweres Gewicht auf seine Schultern herabsenkte. Da hatte er nun den ganzen Abend mächtig gejammert, und dieses Kind mit den mageren Beinen hatte in der Kälte am Bahnhof auf ihn gewartet und war dann mit ihm um den halben Erdball marschiert, um aufzupassen, daß er sich nicht verirrte. Wie alt war er – neun, zehn Jahre alt? Schule. Er mußte in die Schule gehen. Charlie fiel ein, daß er nicht einmal seinen Namen wußte. »Hör mal«, sagte er und blickte über die Schulter zum hellerleuchteten Hoteleingang, »ich weiß deine Hilfe heute abend zu schätzen, wirklich … Aber ich kenn’ nicht mal deinen Namen –«
»Ernest«, sagte das Kind. »Ernest O’Reilly.«
»Du bist Ire, was? Also, hör mal zu, Ernest O’Reilly, vielen herzlichen Dank. Schau mal wieder vorbei – vielleicht haben Mr. Bender und ich ein paar Aufträge für dich. Wir gründen eine Frühstückskostfirma, und ich bin sicher, daß wir einen zuverlässigen Botenjungen brauchen werden.«
Ernest O’Reilly hatte dazu nichts zu sagen. Er stand da, gegen den Wind gebeugt, einen störrischen Ausdruck im Gesicht. »Mr. Bender hat gesagt, Sie sollen mir zehn Cent geben«, wiederholte er.
Charlie hatte es vergessen – womöglich dachte der Junge, daß er ihn übers Ohr hauen wollte. Verlegen holte Charlie seine Kleingeldbörse heraus. »Hier«, sagte er, plötzlich von Großmut überkommen, »hier sind fünfzehn Cent.«
Ernest O’Reilly schnappte sich das Geld, schob es in seine Tasche und sah ihn mit einem halb dankbaren, halb verächtlichen Blick an. »Sie haben wohl zuviel Geld«, quiekte er, und dann war er auf seinen spindeldürren Beinen verschwunden.
Die Transaktion hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in Charlies Mund – dieses undankbare kleine Bürschchen: Was hatte es erwartet? –, und als er sich an der Rezeption nach Mr. Goodloe H. Bender erkundigte, spürte er, wie sich in seiner Kehle Empörung zusammenballte. »Mr. Bender?« wiederholte der Empfangschef, als hätte Charlie in einer fremden Sprache gesprochen. Der Mann musterte ihn einen Augenblick von oben bis unten, zog die Wangen ein zum Zeichen kühler Taxierung, und dann wandte er sich abrupt ab, um leise eine kurze telephonische Beratung zu führen. Schließlich hängte er die Hörmuschel auf den Haken zurück, als wäre sie ein wertvolles Schmuckstück, und wandte sich erneut Charlie zu. »Mr. Bender ist im Augenblick beschäftigt. Würden Sie bitte Platz nehmen?«
Charlie war erschöpft, bis auf die Knochen erschöpft. Ihm schien, als wäre er seit Urzeiten unterwegs. Und dennoch, in diesem Moment konnte er sich kaum zurückhalten, am liebsten hätte er den Mann am Kragen gepackt. Du hühnerhalsiger kleiner Idiot, dachte er, in einem halben Jahr werde ich solche wie dich zu Hunderten heuern und feuern. Er sah dem Mann in die Augen, bis dieser wegblickte, dann stolzierte er durch die Halle und ließ sich in einer Ecke auf ein rotes Plüschsofa fallen. Ein langer Schauder durchlief ihn, und er verschränkte die Arme, klopfte sich auf die Schultern und trampelte mit den Füßen auf dem Teppich herum. Nach einer Weile begann er mit steifen, schmerzenden Fingern seinen Mantel aufzuknöpfen.
Zu dieser Stunde war es ruhig in der Halle – es war jetzt nach zehn, die letzten Neuankömmlinge hatten es sich längst in ihren Zimmern bequem gemacht. Charlie saß da, fummelte an den Knöpfen herum, sah auf seine Taschenuhr, gähnte wider Willen in der exquisiten, einlullenden Wärme. Das war ein Nobelhotel, soviel stand fest. Gobelins an den Wänden, Ölgemälde, Kronleuchter, in den Räumlichkeiten das ruhige Flair von Eleganz und Behaglichkeit, als würde die Zeit stillstehen. Das war es, wonach sich die Reichen sehnten, so vermutete er – die Aufhebung der zeitlichen Ordnung der Dinge, Absolution von den Sorgen und Ängsten des gemeinen Volkes, zu dem er gehörte. Dafür gaben sie ihr Geld aus.
Und C.W. Post verstand das besser als irgend jemand anders. Er war mit
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