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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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leeren Händen in die Stadt gekommen, mit nichts – mit keinen fünfzig Cent, die er hätte investieren können –, und er hatte das hier geschaffen. Selbstverständlich verbrachte er nicht mehr viel Zeit in Battle Creek – er bereiste die ganze Welt, eroberte einen Markt nach dem anderen, baute in Texas eine ganze Stadt, beeinflußte Wahlen und Politik in Washington, brachte Engländer, Franzosen und Deutsche dazu, Grape-Nuts und Elijahs Manna zu essen –, aber wenn er hier war, dann wohnte er hier, im Post Tavern Hotel. Charlie hatte gehört, daß er ein ganzes Stockwerk für sich hatte, eine herrliche Suite mit allen nur denkbaren Annehmlichkeiten … und die Angestellten mußten sich schier zerreißen, wenn er zur Tür hereinkam: Ja, Mr. Post, Sir, ja, Sir, ja, ja, ja …
    Er mußte eingenickt sein. Er konnte sich nicht erinnern, gesehen zu haben, wie der Page durch die Halle auf ihn zukam, um sich dienstbeflissen über ihn zu beugen und mit zwei behandschuhten Fingern sanft seine Schulter zu berühren. »Was?« stieß er hervor und fuhr hoch.
    »Mr. Bender wird Sie jetzt empfangen«, erwiderte der Page in dem Flüsterton, in dem sie alle sprachen, als würde ein normaler Tonfall die Säulen zum Bersten, die Kronleuchter zum Herabfallen und das ganze opulente Gebäude zum Einstürzen bringen. »Würden Sie mir bitte folgen, Sir?«
    Charlie folgte dem Pagen durch die Halle und einen Flur entlang, der offensichtlich zum Hinterausgang des Hotels führte, und während der ganzen Zeit fixierte er müde die angespannten breiten Schultern des Mannes und die blasse Druckstelle in seinem Nacken. Der Page blieb vor einem langen, behaglichen, eichegetäfelten Raum mit eingebautem Buffet, bunten Glasfenstern und einem Arrangement schwerer dunkler Tische und Stühle stehen. Ein schmiedeeisernes Schild über der Tür verkündete: The Wee Nippy – lud, mit anderen Worten, zu einem kleinen Schlückchen ein.
    Als Charlie eintrat, erhob sich Bender von einem der Tische, an dem eine Gruppe wohlhabend aussehender Männer saß. Die meisten blickten etwas einfältig drein, als hätten sie wider besseres Wissen einen Pakt geschlossen und würden es bereits bereuen. Auf dem Tisch verstreut waren leere Bierhumpen, Whiskeygläser, Servietten, Aschenbecher, eine fast leere Platte mit Sandwiches – und zwei abgegriffene Kartenspiele. Von den Zigarren der Herren stieg Rauch auf. Verhaltenes Gemurmel war zu hören. Aber wenn drei oder vier der Männer wirkten, als wäre ihnen etwas unbehaglich zumute, gab Bender ein Bild von polternder Zuversicht, von Optimismus, sogar von Triumph ab. Er hielt die Hand eines der Männer in festem Politikergriff, während er mit der freien Hand ein Bündel Banknoten vom Tisch einsammelte und die Stimme zu einem scherzhaften, jovialen Brüllen erhob. Poker. Plötzlich verstand Charlie. Bender hatte ihn wegen einer Pokerpartie warten lassen.
    In diesem Augenblick sah Bender ihn, und sein Ausdruck veränderte sich unmerklich, als wäre er mitten aus einem Traum aufgeschreckt, als würde er einen Moment lang seinen Partner nicht erkennen, der den ganzen Weg von New York hergekommen war mit dem erforderlichen Kleingeld, um Per-Fo groß zu machen, aber er fing sich auf bewundernswerte Weise. »Charlie!« sagte er dröhnend, segelte auf seinen gewaltigen Füßen durch den Raum, ein torkelnder, schwitzender, pflaumengesichtiger Tornado von einem Mann, riesengroß, füllig, mit Specksteinaugen, die wie blöd aus den Höhlen quollen, die Arme ausgebreitet für die zermalmende Umarmung. Kurz bevor sie sich um ihn schlossen, bemerkte Charlie, daß er seinen Bart gefärbt hatte, damit er mit dem weißen Flaum auf seinem Kopf kontrastierte, und nicht nur das, er war auch dazu übergegangen, ihn in der Mitte des Kinns aristokratisch zu scheiteln. Er sah aus wie ein aus dem Krieg zurückgekehrter General, wie ein Senator, ein Bankier, ein Industriekapitän.
    Als sie sich in dem funkelnden Schankraum umarmten, als Charlie die Kraft in den Armen des älteren Mannes spürte und den opulenten, berauschenden Geruch nach Fliederwasser, kubanischem Tabak und erlesenem Scotch einatmete, der ihn einhüllte wie ein Sukkubus, konnte Charlie nicht anders, er fühlte sich erleichtert, sogar stolz: Dieser Dynamo, dieser Titan, diese welterschütternde Gestalt von einem Mann war sein Partner. Er war ganz benommen, als Bender ihm die anderen Männer vorstellte (Nasen, Schnurrbärte, Vollbärte: Er behielt nicht einen einzigen Namen),

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