Willkommen in Wellville
wußte nicht recht, wie er reagieren sollte. Irgendwie, das spürte er, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die Frage nach den getrennten Zimmern und der Sitzordnung im Speisesaal zu stellen.
»Auch sie ist krank, tut mir leid, es sagen zu müssen, ihr Nervensystem ist völlig erschöpft … aber sie hat sich mit ganzem Herzen der biologischen Lebensweise verschrieben, und ich bin zuversichtlich, daß sie sich auf dem Weg der Besserung befindet – das ist schließlich ihr dritter Aufenthalt bei uns. Aber ihre Neurasthenie – und auch Ihre – ist nur ein Symptom, ein äußeres Zeichen des tieferen Problems, und das ist selbstverständlich die Vergiftung Ihres Organismus mit fäulniserregenden, anaerobischen Bakterien. Das ist das Grundübel.«
»Aber Doktor, wie kann ich an Neurasthenie leiden?« protestierte Will. Hatte er sie alle, jede nur mögliche Krankheit, die in den Lehrbüchern stand? Was war mit Gehirnkrebs? Cholera? Beriberi? »Ich habe gedacht … ich meine, ich habe geglaubt, daß das ein Frauenleiden ist –«
Dr. Kellogg erhob eine gesunde, gerunzelte weiße Handfläche. »Unsinn. Mr. Lightbody, Sie überraschen mich. Wirklich. Wie Begany und Grünweiss nachgewiesen haben, schlägt diese bösartige Krankheit ungeachtet des Alters und Geschlechts zu. Sogar unser Präsident hat in seiner Jugend darunter gelitten.«
Das Bild von T.R. mit steifem Schnurrbart und strenger Brille, wie er in den Ebenen des Wilden Westens über dem Kadaver von einem zweitausend Pfund schweren Bison stand, kam Will unverzüglich in den Sinn. Teddy Roosevelt? Der Feuerspeier von San Juan Hill? Der mit dem entschlossenen Kinn, der Kraftstrotzende, der Männliche? Der Trust-Sprenger und Großwildjäger? Teddy, neurasthenisch?
»Das ist nichts, dessen man sich schämen müßte«, erklärte der Doktor. »Manche Menschen sind einfach zarter besaitet als andere, zu empfindlich und nachdenklich, als es gut für sie wäre, zu intellektuell, zu poetisch veranlagt, zu weltoffen und zu feingeistig – hielte ich mich nicht an meine rigorose physiologische Routine und an die Lektionen des einfachen Lebens, würde ich zweifellos auch daran leiden. Aber genug davon.« Dr. Kellogg beugte sich wieder nach vorn über den Schreibtisch, die Arme steif, und die hohen, geschwungenen Brauen Abraham Lincolns wölbten sich moralisch drohend hinter ihm an der Wand. »Ich erwähne Mrs. Lightbody – Eleanor – aus einem ganz bestimmten Grund.«
Will schwindelte. Seine Kehle war trocken – sie fühlte sich an, als hätte jemand eine Flaschenbürste hineingesteckt und dann mit heißem Sand gescheuert –, und der Kobold, der in seinen Eingeweiden wohnte, klopfte mit einem brennendheißen Finger an seine Magenwand. Was käme als nächstes?
Der strenge, kleine weißgekleidete Heiler bedachte Will mit einem Blick, der jedem Schulmeister zur Ehre gereicht hätte. »Um wiederum ganz ehrlich zu Ihnen zu sein, ich erwähne die Gesundheit Ihrer Frau, weil ich betonen muß, wieviel Zurückhaltung Sie sich hinsichtlich Ihrer natürlichen Triebe werden auferlegen müssen – jegliche ehelichen Beziehungen würden ihr, Ihnen beiden, meiner Meinung nach nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen.«
Schweiß glänzte auf Dabs kahlem, gedunsen aussehendem Kopf. Er schrieb wie ein Wilder, wagte nicht aufzublicken. Will spürte, wie er selbst rot wurde. »Haben Sie uns deswegen auf unterschiedlichen Stockwerken untergebracht? Kann ich deswegen nicht einmal eine Mahlzeit gemeinsam mit meiner Frau einnehmen?«
»Noch einmal, in aller Offenheit«, fuhr der Doktor fort, ohne ihn zu beachten, und seine Stimme erhob sich wie bei einem Redner, der zum Thema kommt, »ich muß Sie fragen, wie oft Sie intime körperliche Beziehungen zu Ihrer Frau aufgenommen haben während dieser Periode Ihrer Krankheit – und der Ihrer Frau?«
Wills rechter Fuß begann auf- und abzuhüpfen, wippte unter dem Schreibtisch, als hätte er sich plötzlich von Wills Körper gelöst. Er mied des Doktors kalten, starren Blick und betrachtete die kantige, geschlechtslose Visage von Thomas ›Old Parr‹ Parr, der mit hundertundzweiundfünfzig an Langlebigkeit gestorben war. »Also«, begann er, rang nach Fassung, er kam sich vor wie ein Verbrecher, ein Frauenschänder, wahrhaft strotzend vor Selbstsucht, »wir pflegten … zusammenzukommen, vielleicht einmal, oh, in der Woche« – er blickte verstohlen auf, um zu sehen, wie der gute Doktor zusammenzuckte –, »oder seltener,
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