Willkommen in Wellville
manchmal seltener, wesentlich seltener, aber dann wurde sie, sie wurde –«
» Gravid« ,half der Doktor aus.
»Ja. Und wir, wir …« Plötzlich stand das Bild seiner Tochter vor ihm, der Tochter, die er nie gesehen oder auf dem Arm gehalten und der er nie am Kiosk ein Eis gekauft hatte, das idealisierte Bild eines kleinen Mädchens mit Zöpfen, mit Hut und Korb, eine sonnenbeschienene Wiese mit Blumen, und er brach zusammen. »Aber sie ist gestorben« ,schluchzte er, »gestorben, bevor ich sie sehen konnte, nur ein einziges Mal sehen konnte –«
Schweigend, wie auf Katzenpfoten, glitt der Doktor um den Schreibtisch, blieb steif vor Will stehen und hielt ihm mechanisch das frischgebügelte leinene Taschentuch hin. »Ist ja gut«, sagte er, seine Stimme ein Krug voller Mitgefühl, »ich verstehe. Die traurige Tatsache menschlicher Existenz ist es, daß wir diese gefährlichen Praktiken auf uns nehmen müssen – gleichermaßen gefährlich für Mann und Frau angesichts der Erregung des Nervensystems, des Verlusts lebensspendender Säfte, des Schocks für die Verfassung beider Partner –, wir müssen sie auf uns nehmen, sage ich, um die Art zu erhalten. Das ist unser Schicksal im Leben. Aber machen Sie sich keine Vorwürfe, Mr. Lightbody – ich habe Schlimmeres gesehen, viel Schlimmeres. Männer, die jede Nacht ihren Trieben nachgaben – in einem Fall zwanzig Jahre lang ausnahmslos jede Nacht. Dieser Mann war eine wilde Bestie. Er hat drei Frauen unter die Erde gebracht.«
Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Dab schrieb noch immer mit Feuereifer – Will konnte das Kratzen der Feder vom sachten Pochen des Dampfes in den Rohren und den gelegentlichen leisen Geräuschen im Korridor unterscheiden –, aber er hatte sich abgewandt, als sei das Thema zu schmerzhaft, als daß er es ertragen könnte. Schließlich kehrte der Doktor lautlos auf seine Seite des Schreibtisches zurück, und zum erstenmal während ihrer Unterredung setzte er sich. »Die Welt ist ein geschäftiger Ort, Mr. Lightbody«, begann er und legte die Finger so zusammen, daß sie ein Dreieck bildeten; der Apfel, an dem er beiläufig genagt hatte, lag neben seinem Ellbogen. »Die Straßen sind voller Waisenkinder. Meine Frau und ich haben alle unsere Kinder adoptiert, und wir sind stolz darauf. Ich predige Enthaltsamkeit, Sir, strikte Enthaltsamkeit. Auf jeden Fall für die Zeit, die Sie in unserer Obhut verbringen und solange Ihr Zustand so angegriffen ist, aber auch für die Zukunft … Wir sind in der Lage, unsere Gelüste zu zügeln, wir sind tatsächlich dazu in der Lage. Gott hat uns diese Kraft gegeben.«
Nachdenklich seinen Nacken massierend, blätterte der Doktor die Akte durch. Er blickte nicht auf, als er auf seine kalt insinuierende Art noch etwas tiefer im Dreck wühlte. »Verlangen nach alkoholhaltigen Getränken? Opiaten? Sie haben diese Probleme überwunden?«
Will konnte kaum sprechen. Er fühlte sich gedemütigt, schämte sich zutiefst seines Körpers mit seinen geheimen Wünschen und Sekreten, schämte sich der schrecklichen lüsternen Gedanken, die er den ganzen Tag über gehegt hatte, schämte sich so sehr, daß er nicht glaubte, Schwester Graves jemals wieder in die Augen sehen zu können. »Ja«, würgte er heraus, erstickte fast an dieser einen einfachen kleinen Silbe.
»Gut.« Der Doktor sah unter seinem Augenschirm hervor. »Wir werden jetzt Ihre Darmflora verändern, das ist der erste Schritt. Sie wissen doch, daß über einhundertsechzig verschiedene Arten von Bakterien den menschlichen Verdauungstrakt bevölkern, oder?«
Will nickte schwach. Ja. Das heißt, nein. Nein, er hatte es nicht gewußt.
»Jede dieser Arten formt ihre eigenen unverwechselbaren Produkte und Nebenprodukte, und viele davon sind hochtoxisch. Die zwei Hauptklassen dieser Bakterien, die aeroben und die anaeroben, wie sie von Tissier und anderen beschrieben wurden … Sie kennen doch Tissiers Arbeiten? Macht nichts. Jedenfalls, die Aeroben sind in der Regel nützlich – für uns sogar lebenswichtig, und größtenteils produzieren sie harmlose Säuren –, aber die Anaeroben, die Bakterien, die wir in fleischhaltigen Lebensmitteln finden, sind krankheits- und fäulniserregend. Sie sind bösartig, Mr. Lightbody, und sie sind auch Ihre Geißel.«
Der Doktor war wieder auf den Beinen. Er biß in den Apfel, der mittlerweile um die Abdrücke herum, die seine Zähne hinterlassen hatten, braun geworden war. Kauend schritt er auf und ab und strich
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