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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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nachzusehen, wie es ihm ginge. »Ruhen Sie sich jetzt aus«, ermahnte sie ihn, und kleine Atemwölkchen entströmten ihrem Mund, als sie das Heißwasserreservoir aus Gummi unter die Decken steckte, »um halb drei kriegen Sie Ihr Nachmittagsklistier, und dann heißt es ab in die Dickdarmabteilung, in den Schattenbildraum und in die Anthropometrische Abteilung. Und anschließend« – sie hielt sich einen Augenblick zurück, als ob sie eine Audienz bei einem gekrönten Haupt Europas ankündigen würde – »wird der Boss Sie untersuchen.«

8.
DIE FLORA WIRD VERÄNDERT
    Es war spät am Nachmittag, die Fenster beklebt mit dem dunklen Leim der Nacht, eine nachdenkliche Ruhe ließ sich in den Korridoren des San nieder, während Patienten wie Personal Vorbereitungen fürs Abendessen trafen – es war die Stunde, zu der sich an einem anderen, glücklicheren Ort die Menschen zu einem Cocktail trafen. Will saß allein auf einer Bank im Palmengarten, atmete die schwere Feuchtigkeit und die tropische Beklemmung ein, die hier herrschten, und lauschte dem Battle-Creek-Sanatorium-Quartett (vier Herren mit steifen Rücken, die symmetrische Spitzbärte aufwiesen), das pflichtbewußt irgend etwas von Schumann heruntersägte. Zumindest glaubte er, daß es etwas von Schumann war. Da war diese fließende Traurigkeit, dieser präzise teutonische Anfall von Freude. Schumann. Mit Sicherheit. Er sah sich um und gähnte. Er war erschöpft, schwach und zutiefst gelangweilt, wie er da zwischen den alten Damen in ihren Rollstühlen saß wie der Invalide, der er geworden war, seine. Uhr kontrollierte und einen Rülpser unterdrückte, als ihm die drei Bissen Reis à la Carolina aufstießen. Wo war sie? Was hielt sie auf?
    Gerade als er sie aufgegeben hatte, als er die Augen zum Adagio geschlossen hatte und seine Gedanken über die kopfsteingepflasterten, hügeligen, sonnenbeschienenen Straßen Peterskills schweifen ließ, zu einer weit zurückliegenden Parade zum Vierten Juli, Eleanor an seinem Arm, das Mittagessen im Korb, die Kapelle schmetterte gerade einen in die Füße fahrenden Marsch von Sousa, spürte er eine Berührung am Ellbogen. Es war Schwester Graves, die mit den sanften braunen Augen und den geschickten Händen, die gekommen war, um ihn zum Großen Doktor zu bringen, wo er sein Schicksal erfahren würde, ein für allemal.
    »Sie Ärmster«, hauchte sie und half ihm auf die Beine, »Sie müssen erschöpft sein. So ein Jammer, daß ich Ihren kleinen Schlummer unterbrechen muß –«
    »Ich habe nicht geschlafen«, widersprach Will und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. »Ich habe nachgedacht, sonst nichts. Meditiert.«
    »Ja, natürlich«, säuselte sie, als sie unter dem Rundbogen hindurch in die Hotelhalle gingen, ihr üblicherweise flotter Schritt dem langsamen Tempo seines invaliden Schlurfens angepaßt, »ich habe auch immer die besten Gedanken, wenn ich schnarche. Versuchen Sie nicht, es abzustreiten – Sie haben geschnarcht. Sehen Sie, ein Tag im San, ein Schritt in Richtung physiologisches Leben, und schon schlummern Sie ein wie ein Baby – Sie, der Sie seit über drei Wochen nicht geschlafen haben.«
    Sie bogen in den hellerleuchteten Korridor rechter Hand, ab und zu begegnete ihnen ein Patient, der von einer letzten Blutuntersuchung oder Darmkontrolle kam, während die Ärzte ihre Büros abschlossen und mit ausgreifenden physiologischen Schritten nach Hause eilten. Will mußte zugeben, daß sie die Wahrheit gesagt hatte – er hatte tatsächlich geschlafen, zumindest das. Vielleicht hatte das System des Sanatoriums doch etwas für sich – vielleicht, aber nur vielleicht würde seine Gesundheit doch wiederhergestellt, mit oder ohne Eleanor an seiner Seite. Dieser Gedanke – wieder fähig zu sein, aufrecht zu stehen, durch den Wald zu spazieren, wieder Interesse am Leben zu finden, einen Cocktail zu trinken, eine Zigarette zu rauchen, sich wie alle anderen vollzustopfen und sich hinterher auf der Toilette zu entspannen – erfüllte ihn plötzlich mit Hoffnung. »Wen immer Sie vor dieses Orchester setzen, innerhalb von dreißig Sekunden verliert er das Bewußtsein«, dröhnte Will, er scherzte jetzt, war nahezu fröhlich, unterwegs zu seinem Heiler, mit diesem gnadenvollen Engel an seiner Seite. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich es angeheuert, damit es mir jeden Abend ein Ständchen spielt, so gegen elf in meinem Wohnzimmer, während ich in der einen Hand ein Glas mit warmer Milch halte und in der anderen

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