Willkommen in Wellville
verheirateter Frauen, dieser ausgiebige Frühstücker? Will hatte erfahren, daß er Junggeselle war, und diese Tatsache deprimierte ihn noch mehr – keine schmucke, physiologisch korrekt genährte Frau erwartete den lüsternen Doktor zu Hause, kein Getrippel eiliger Füße antwortete auf das Klimpern seines Schlüssels im Türschloß. Um so mehr Grund hatte er, seiner ungezügelten Junggesellenlibido freien Lauf zu lassen und den Frauen anderer Männer hinterherzugieren.
Aber halt, wahrscheinlich bildete sich Will das alles nur ein. Was wäre schon dabei, wenn Linniman sich seiner Frau gegenüber herzlich – außergewöhnlich herzlich – verhielt? Das gehörte zu seinem Job, oder? Und außerdem war sich Will Eleanors sicher – sie mochte ihn vergiften, aber sie würde ihn nie verlassen, nie auch nur daran denken, niemals. Oder? Sie hatten ihre Differenzen beigelegt – es war nichts Ernstes, wirklich, darin waren sie sich einig; es lag einfach daran, daß sie beide krank waren und unter starkem Druck standen wegen des Ortswechsels und der Kur und der langen, anstrengenden Reise. Am Abend zuvor war sie in sein Zimmer gekommen, hübsch anzusehen in einer schlichten weißen Hemdbluse und einem schwarzen Rock, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Letztlich war sie über eine Stunde geblieben, hatte an seinem Bett gesessen und ihm aus Helen Kellers Geschichte meines Lebens vorgelesen, und bevor sie wieder gegangen war, hatte sie sich über ihn gebeugt, sein Gesicht in beide Hände genommen und ihn lange und vielversprechend geküßt.
»Oh, Mr. Lightbody, also wirklich.« Miss Muntz lachte am anderen Ende des Tisches. »Sagen Sie bloß, Sie haben ihn bis jetzt nicht bemerkt!« Und dann war sie auf den Beinen und rauschte mit raschelndem Rock um den Tisch, um neben ihm stehenzubleiben und auf das Phänomen, das Wunder, die neue Attraktion des Speisesaals zu deuten.
Und Will, eingefangen in der Aura ihres Parfums und sich ihrer Nähe prickelnd bewußt, sah ihn endlich, und er konnte nicht anders: Er brach in lautes Lachen aus. Wie hatte er ihn nur übersehen können? Dort war er, das Gesprächsthema des Speisesaals, genau vor seinen Augen hockte er hinter den hölzernen Stäben seines Käfigs, der auf einem Tisch in der Ecke stand. Ein Truthahn. Ein fetter, kehllappiger, gefiederter, sich brüstender Truthahn, der aus matt schimmernden Augen die Gäste anstarrte. Darüber hing ein weiteres didaktisches Banner des Doktors:
EIN DANKBARER VOGEL
Und warum war er dankbar? Weil in zwei Wochen die gesamte, knapp tausendköpfige Patientenschar des San Nuttolene-Steaks, danke vielmals, und falsche Innereien und Gluten-Soja-Soße zu Rüben, Bratkartoffeln und Moosbeeren essen würde. Das mußte Will Kellogg lassen: Er ließ sich keine Gelegenheit entgehen.
»Ist das nicht lustig?« hauchte ihm Miss Muntz ins Ohr, und ihr Gesicht erstrahlte in einem grünlichen Glühen.
Es war, als wäre Will ein Gewicht von den Schultern genommen: Es war wirklich lustig, ja, das war es. Und mehr, viel mehr noch. Hier war dieser edle Vogel, diese Verkörperung geflügelten Flugs und ofengebräunter Haut, der Lieferant von Keule und Flügel, von weißem und dunklem Fleisch, ihr Mitgeschöpf, das jedes Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach kehllappigem Glück hatte, hier stolzierte er in seinem Gehege herum und fraß die gleichen Nüsse und Körner wie sie, ihm blieb die Schlachtbank und das tödliche Herniedersausen des Hackebeils erspart. Das war es, worum es ging, das vegetarische Ethos, eine neue Art von Spiritualität und moralischer Verbundenheit, und Will sah es vor seinen Augen picken, spürte es tief in seiner Magengrube. Zumindest glaubte er, es zu spüren. Selbstverständlich – und sogar in diesem Augenblick der Hingerissenheit ging ihm der Gedanke durch den Kopf – konnte es auch nur ein Psylliumsamen sein, der in einer verborgenen Nische keimte.
Nach dem Frühstück geleitete Schwester Graves Will in die Männerturnhalle zu einer Sitzung Schwedischer Körperbewegungen und Lachübungen, gefolgt von Vibrotherapie und einem halbstündigen Sinusbad. Soweit Will sehen konnte, bestanden die Schwedischen Körperbewegungen, so wie sie hundert Jahre zuvor vom Schweden Ling entwickelt worden waren, nachdem er einen alten chinesischen Text in französischer Übersetzung gelesen hatte, hauptsächlich aus Sprüngen und Händeklatschen in verschiedenen verkrampften und unnatürlichen Stellungen. Hundert Männer
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