Willkommen in Wellville
Neuankömmlinge mit einer ausgewählten Gruppe von zirka hundert besonders distinguierten Patienten bekannt zu machen. Will und Eleanor waren eingeladen – gemeinsam, Arm in Arm, als Mann und Frau, als Liebespaar, als die Eheleute, die das stolze Backsteinhaus bewohnten, das sein Vater in der Parsonage Lane für sie gebaut hatte –, und Eleanor war beschwatzt worden, eine kurze Rede über ihre Arbeit bei der Organisation des Vereins Peterskiller Frauen für eine biologische Lebensweise vorzubereiten. Will war in Hochstimmung. Nicht nur wegen der Gelegenheit, ein bißchen Zeit mit seiner Frau verbringen zu können – und mit ihr und ihrer ganzen außergewöhnlichen Schönheit und Weltgewandtheit vor den kränkelnden Millionären angeben zu können –, sondern weil er, endlich, die Psylliumsamen und Algen hinter sich hatte.
Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein – da war immer noch die Sache mit der neuen Diät, mit der er sich abfinden mußte, das heißt, der Milchdiät. Der Diät, die nach seinem morgendlichen Klistier mit exakt einhundertzwanzig Milliliter reiner, weißer, vollwertiger Milch aus der hygienisch makellosen Sanatoriumsmolkerei begann, wo die Kühe zweimal am Tag gesaugt wurden, um auch noch die geringste Möglichkeit auszuschließen, daß Schmutzpartikel oder Haare das fertige Produkt verunreinigten. Der Diät, die ein exakt einhundertzwanzig Milliliter großes Glas Milch tagsüber alle fünfzehn Minuten und nachts jeweils zur vollen Stunde vorschrieb, und das so lange, wie es die Doktoren Linniman und Kellogg für notwendig erachteten. Das Problem war, daß Will Milch nie gemocht hatte, nicht einmal als Kind. Und während der letzten fünfzehn Jahre hatte er sie lediglich dazu verwendet, ab und zu einen Milchpunsch zu machen oder seinen morgendlichen Kaffee aufzuhellen – wenn er im Jahr drei Liter verbrauchen sollte, hätte es ihn gewundert. Und jetzt war er damit getränkt. Vollgesogen, patschnaß, durch und durch gesättigt. Jetzt würde er Milch und nochmals Milch trinken, bis sie ihm aus allen Poren sickerte und er von nichts anderem träumte als saftigen Weiden und baumelnden Zitzen. Dennoch gab es selbst angesichts dieses erbarmungslosen Diätplanes Grund zur Hoffnung. Dr. Kellogg – stets die Freundlichkeit in Person, stets augenzwinkernd, stets strotzend vor Gesundheit und positiver Denkweise – hatte einen Wechsel angedeutet, irgendwann in ferner Zukunft, wenn es die Umstände zuließen, zur Traubendiät.
Das Bankett wurde im vierten Stock abgehalten, in einem hohen Versammlungsraum gegenüber dem großen Speisesaal. Auch hier standen in regelmäßigen Abständen Palmen und hingen mahnende Banner an der Wand (DER BATTLE-CREEK-GEDANKE!) wie im großen Speisesaal, aber die Tische waren länger, so daß zwanzig Personen und mehr daran Platz fanden, und an der Wand gegenüber der Tür war ein Podium errichtet worden. Eleanor trug ein Kleid aus grüner Seide, das ihre Augen zur Geltung brachte, mit einem elfenbeinfarbenen Kragen aus Spitze und dazu passendem Retikül. Sie war schön auf ihre geschmeidige, langhalsige Art, wie ein exotischer Vogel, und Will mußte zugeben, daß ihr der Aufenthalt im Sanatorium gut bekam – wenn er es nicht besser gewußt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, daß ihr etwas fehlte. Und so wie jeden Abend, auch wenn es nur darum ging, Samenkörner hinunterzuwürgen oder Milch zu schlucken, kleidete sich Will in eine schneeweiße Hemdbrust und einen edlen, altmodischen Frack.
Sie saßen in der Nähe des Kopfendes, an einem langen Tisch, an dem sich unter anderem bereits Mrs. Tindermarsh, Admiral Nieblock von der Marineakademie, der Schriftsteller und Reformer Upton Sinclair und der große Kauer höchstpersönlich, Horace B. Fletcher, niedergelassen hatten. Die Beleuchtung war gedämpft, an den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen kleine Lampen mit Schirmen, und auf den Tischen standen Kandelaber. Will betrachtete mit Wohlgefallen die Nelken, das funkelnde Tafelsilber und Kristall, und er beherrschte den Drang, sich über eine Schüssel mit gesalzenen Mandeln herzumachen, die neben Sellerie, Oliven und Schüsseln mit Kleie den Appetit der Gäste anregen sollten. Zum erstenmal, seit er sich erinnern konnte, verspürte er leise nagenden Hunger, aber des Doktors Stimme sprach in seinem Kopf – Keine Mandeln für Sie, Sir, keine Sellerie und auch keine Kleie, noch nicht, noch nicht –, und er faltete die Hände und wartete geduldig auf
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