Willkommen in Wellville
klopfte an die Tür. Sie erstarrten. Schuldig, ertappt, von Panik erfüllt. Will wollte schon in Richtung Schrank stürzen, als Eleanor ihn, unter Aufwendung erstaunlicher Kraft, von sich herunterstieß wie einen Haufen alter Lumpen. Einen Augenblick lang herrschte höchste Spannung – würde der Störenfried dableiben? Würde er weggehen? Würde sich der Türknauf mit einem Klicken drehen? –, und dann ertönte vom Korridor die hauchende, klinisch reine Stimme von Vernunft und Diät. »Mr. Lightbody? Mr. Lightbody, sind Sie da drin?«
Schwester Graves.
Eleanor stand auf, um zur Tür zu gehen, völlig gefaßt, hoheitsvoll, eisig – Eleanor, die einen Augenblick zuvor noch voller Leidenschaft in seinen Armen gelegen hatte. »Ja?«
Schwester Graves stand in der Tür und balancierte eine Untertasse in der Hand. Auf der Untertasse stand ein Hundertzwanzig-Milliliter-Glas, in dem opak die Milch schimmerte. »Es tut mir sehr leid, Sie zu stören, Ma’am«, hauchte sie kaum hörbar, mit hochroten Backen, »aber es ist Zeit für das viertelstündliche Glas Milch Ihres Mannes. Und Mr. Lightbody« – sie sah an Eleanor vorbei zu Will, der vornübergebeugt in Unterhemd und Dinnerjacket auf dem Bett saß –, »Sie sollten wirklich bald ins Bett gehen. Es ist nach zehn. Viertel nach zehn. Sir.«
Eleanor stand reglos da. Schweigend hörte sie die Schwester an, und die leise Sprechweise der jüngeren Frau schien ihre Gefaßtheit zu bestärken. Sie war größer als Schwester Graves – Irene –, immerhin um ungefähr fünf Zentimeter, und sie war schlanker, und ihre Selbstbeherrschung war unerschütterlich. Selbstverständlich war Eleanor eine Frau von Welt, durch und durch kultiviert, während Schwester Graves ein Mädchen war, eine Naive – kräftig, gesund, drall, mit einem Lächeln, das wie die Morgensonne über einem Weizenfeld aufging, aber nichtsdestoweniger eine Naive. San oder nicht San, hier hatte Eleanor das Sagen. »Sie können mir die Milch geben, Schwester. Mr. Lightbody ist im Augenblick beschäftigt, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Und obwohl wir Ihre Dienstbeflissenheit durchaus zu schätzen wissen, so möchte ich doch darauf hinweisen, daß Sie uns nicht wie ein Kindermädchen nachlaufen müssen.« Eleanor wandte den Blick nicht eine Sekunde vom Gesicht der jüngeren Frau. »Das ist alles, danke.«
Aber Schwester Graves überraschte ihn. Statt Eleanor die heilkräftige Milch zu überreichen und sich lammfromm zurückzuziehen, behauptete sie ihre Stellung. »Es tut mir sehr leid, und ich bitte vielmals um Entschuldigung, Ma’am, aber der Doktor hat angeordnet, daß ich die Milch selbst verabreichen und den Patient beobachten soll, bis er sie völlig ausgetrunken hat.«
Es verging ein langer Augenblick, und Will mußte an Armeen denken, die sich eingruben, Wachen postierten, Nachrichtenkanäle einrichteten, Verteidigungswälle anlegten. Schließlich seufzte Eleanor verärgert. »In Ordnung«, sagte sie, »verabreichen Sie die Milch, beobachten Sie den Patienten. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Schwester Graves trat auf forsche, offizielle Art ins Zimmer, mit kurzen schnellen Schritten und geradem Rücken. Wortlos beugte sie sich zu Will hinunter, reichte ihm die Untertasse und wartete, bis er das einundsechzigste Glas dieses Tages geleert hatte. Und dann marschierte sie, ganz und gar Krankenschwester, quer durch den Raum, das leere Glas auf der Untertasse balancierend, und blieb an der Tür kurz stehen. Ohne Eleanor anzusehen, wandte sie sich mit ihrer sanft kratzenden Stimme direkt an Will: »Ich warte in Ihrem Zimmer auf Sie, Mr. Lightbody«, und dann war sie verschwunden, ohne die sperrangelweit offenstehende Tür zu schließen.
Drei schnelle Schritte, und Eleanor schlug die Tür zu, so daß Sturz und Pfosten erzitterten und Will die Ohren klangen. Sie war wütend, ihre Augen Schlitze, ihr Mund ein Strich. »Wer glaubt sie, daß sie ist – deine Nanny? Himmel, hast du gesehen, wie sie da gestanden und mir auf meiner eigenen Türschwelle die Stirn geboten hat? Als sei mir nicht zuzutrauen, dafür zu sorgen, daß du deine wertvolle Milch trinkst.«
»Ist schon gut, Eleanor«, gurrte Will und stand vom Bett auf, um sie in die Arme zu nehmen, um dort wieder anzufangen, wo sie aufgehört hatten, »sie tut nur ihre Pflicht.«
»Ihre Pflicht?!« schrie sie und schüttelte ihn wütend ab. »Ist es ihre Pflicht anzudeuten, daß deine Frau inkompetent ist? Nicht vertrauenswürdig?« Ihr Gesicht
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