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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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war da. Will stand eine Weile vor der Tür, bevor er die Klinke ergriff, die Tür einen Spalt öffnete und hineinschlüpfte.
    Der Raum schien im Dämmerlicht der Straßenlampen, das durch die Fenster hereinsickerte, noch riesiger. Feierliche Säulen, gespenstische Palmen: er wirkte wie ein höhlenartiges Mausoleum. Über sich konnte er die großen schwarzen Buchstaben von Horace B. Fletchers Anordnung erkennen und am anderen Ende das fahle Band, das über dem Käfig des Vogels hing. Er sah, daß die Tische fürs Frühstück gedeckt waren. Der dankbare Vogel machte keinerlei Geräusch.
    Aber was glaubte er eigentlich, daß er hier tat? Er kam sich wie ein Dieb vor, wie ein Mörder – sein ganzes Leben lang hatte er die Gesetze geachtet, und jetzt war er hier, bereit, eine schwere Körperverletzung zu begehen. Dieser unschuldige Vogel, dieses schuldlose Leben. Aber dann dachte er an den selbstgefälligen, unfehlbaren Doktor, an seine jederzeit verfügbaren Slogans und seine unangestrengte, rotbackige Gesundheit und den ganzen Rest, und die verführerische Ironie der Tat überwältigte ihn. Ein dankbarer Vogel, erdrosselt in seinem Käfig. Würden sie ihn beim ersten Tageslicht wegschaffen und einfach in die Mülltonne werfen? Würde der Doktor einen Betrüger an seiner Statt hereinschmuggeln? Wie würde er den leeren Käfig erklären, den Tod, wo vormals Leben war? Will biß die Zähne zusammen und stapfte mit dem unerbittlichen Schritt des Henkers durch den Raum, und dort stand er, der Käfig, genau vor ihm, und die gespenstisch weißen Latten schienen Vorposten gegen die tiefere Düsternis im Inneren.
    Er sah und hörte nichts. Wo war das verdammte Vieh? Würde es aufkreischen, wenn er die Tür aufriß, wenn sich seine Finger um die dankbare Kehle legten? Er mußte vorsichtig sein. Wenn ihn jemand entdeckte … Er sah des Doktors strengste Miene vor sich, den tadellos gestutzten Spitzbart, die schlauen, unbarmherzigen kleinen Augen. Was glauben Sie wohl, was Sie da mit meinem Truthahn machen, Sir? Seine Hand war auf dem Schloß – und wie ging es auf? Ein Riegel. Hier, unter seinen Fingern. Er schob ihn zur Seite. Nichts. Der Truthahngestank stieg ihm in die Nase, scharf, stechend, Ammoniakgeruch, der Geruch nach Bauernhof, gedüngten Feldern, feuchtem Schimmel in der dunkelsten Ecke des dunkelsten Kellers. Und dann nahm er Form an, ein schwarzer Haufen Federn am Käfigboden, bereits Abfall, ein Sack voller Nichts. Will holte Luft und griff danach.
    Kein Kollern, kein Glucken, kein überraschtes Schnappen nach Luft: Das Ding rührte sich nicht. Kalt. Blutleer. Schlapp. Wie vor den Kopf gestoßen faßte Will nach den nackten Füßen und zog das Vieh in einem dunklen Durcheinander von Federn und Staub aus dem Käfig. Mit einiger Mühe hielt er ihn im schwachen Lichtschein hoch. Der Hals des großen Vogels war schlaff, die Flügel hingen schief. Will spürte, wie ihn ein Schauder durchfuhr. Baumelnd, auf ewig dankbar, drehte sich das Ding im Kreis wie ein Gehängter, der seinen Schwerpunkt am Ende des Galgenstricks gefunden hat.
    Tot. Der Vogel war bereits tot.

ZWEITER T EIL HERAPEUTIK

1.
Es WEIHNACHTET
    Während Weihnachten näherrückte, veränderte sich das San. Die Korridore waren mit Bärlapp und Stechpalmen geschmückt, in der Eingangshalle wurde ein drei Meter hoher Baum aufgestellt, und wohin man schaute, stieß man auf glitzerndes Lametta, Kreppapier und Mistelzweige. Dr. Kellogg nutzte die Feiertage, vom Tag des Waldmurmeltiers am zweiten Februar bis zum Vierten Juli, stets sinnvoll und vorausblickend, wobei er fortgesetzt sein Äußerstes gab, um das jeweilige Fest so auszugestalten, daß es sich in einen Triumph der gesunden Lebensweise verwandelte, aber an Weihnachten wuchs er über sich selbst hinaus. Er wies sein Personal an, Schlittenfahrten, gemeinschaftliche Gesangsabende, Tombolas und ähnliches zu organisieren (ein beschäftigter Patient hat keine Zeit, aufsässig zu sein, pflegte er zu sagen), das Sanatoriums-Orchester spielte unablässig Stücke von Bach, Händel und Monteverdi, und »Professor« Samuel Siegel schlenderte mit einer Triangel und einer Blockflöte durch den Speisesaal und gab Versionen von Jingle Bells, Stille Nacht und The Dance of the Sugar Plum Fairy zum besten, die abwechselnd komisch und rührend waren. Die Schwestern schienen noch federnder zu schreiten, Ärzte und Pikkolos begegneten sich, Weihnachtsliedchen pfeifend, auf den Fluren, und selbst der trübsinnigste Patient

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