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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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aber es hatte keinen Zweck. Er war ein Wrack, eine Ruine, die ausgebrannte Hülse eines Mannes. Sogar dies, der elementarste menschliche Akt, lag jenseits seiner Grenzen. Ihm wurde eiskalt vor Angst. Er war ein kranker Mann, ein todkranker Mann.
    »Will?«
    Er zog sich von ihr zurück, fischte im Dunkeln nach seiner Kleidung.
    »Will?«
    »Ich – ich glaube, du hast recht, El. Wir dürfen das nicht tun. Nicht jetzt. Wir sind zu krank, wir beide, wir sind –«
    »Will, hör auf damit. Sei kein Narr. Komm her zu mir.« Sie setzte sich auf, und im dämmrigen Licht sah er, wie sie die Arme nach ihm ausstreckte. »Will.« Ihr Ton war jetzt schärfer. » Komm her. Zu. Mir. «
    Aber Will war aufgesprungen, fuhr in seine Kleider, als müßte er aus einem brennenden Haus fliehen, er riß die Tür auf und hoppelte barfuß auf den Flur, Schuhe und Hemdbrust baumelten von seinen Fingern. »Will«, rief sie ihm nach, gebieterisch, fordernd, schriller und schriller, »Will, Will, Willi«
     
    Er wußte nicht, wie lange er schon durch die Flure wanderte, ohne Hoffnung weitertrottete, auf ewig ein Insasse, ein Invalide, kein Mann, sondern ein Eunuch, ein Kastrat, ein Zuchthengst, den man aufs Altenteil abgeschoben hatte. Wie betäubt kreisten seine Gedanken um die traurige Wahrheit, und zum erstenmal in seinem Leben fragte er sich, ob es die Mühe lohnte, weiterzumachen. Was hatte es für einen Sinn? Ihm hatte man alles genommen.
    Er wanderte ziellos umher, und wenn zufällig eine Schwester oder ein Pfleger vorbeikam, drückte er sich in einen Türeingang oder verkroch sich hinter einer Palme. Mittlerweile würden sie ihn sicherlich suchen – Schwester Graves hatte bestimmt Alarm geschlagen. Er hatte das letzte Glas Milch des Tages versäumt, ganz zu schweigen von seinem abendlichen Klistier, und selbst wenn Schwester Graves nach Hause gegangen war, würde sich die Nachtschwester, die ihn zu jeder vollen Stunde brutal wachrüttelte, damit er seine nächtliche Milchdosis einnahm, angesichts seines leeren Bettes wundern. Er versteckte sich eine Zeitlang im Palmengarten, kam sich wie ein Kind vor, das Verstecken spielte, und als es sich das San in den tiefen Höhlen der Nacht bequem machte, setzte er sich wieder in Bewegung, suchte die Korridore heim, die dunklen Ecken, die Hinterzimmer. Und da dachte er an den Truthahn, an den dankbaren Vogel, der in einer Ecke des Speisesaals in seinem Käfig schlief. Er stellte sich vor, wie er gluckte und kollerte, gut aufgehoben in seinen gefiederten Träumen, und den grausamen Betrug des Lebens vergaß. Ein dankbarer Vogel. Wohl wahr. Und wofür sollte Will dankbar sein?
    Es war spät, und er war nicht mehr ganz klar im Kopf. Der Truthahn ragte vor ihm auf wie ein Schreckgespenst, Symbol und Verkörperung all der falschen Versprechungen, die das San gemacht hatte, all der höflichen Versicherungen und tödlichen Urteile. Der Truthahn war dankbar, und er war es nicht. Plötzlich wollte er ihn sich winden sehen. Er wollte, daß er erfuhr, was Schmerz bedeutete, wollte seine ledrigen Kehllappen packen und sie von der dummen, schmalen Birne von einem dankbaren Kopf reißen – er wollte ihn erdrosseln, rupfen, die Flügel vom Rumpf reißen und die Füße von den Beinen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, als zöge ihn eine Kraft, fand er den Weg zum Treppenhaus, und dann stieg er hinauf, ein Schlafwandler, ein Zombie (aber nicht so sehr Zombie, daß er den Aufzug genommen hätte – nein, das würde nicht funktionieren, dort würden sie ihn erwarten). Sechs Stockwerke. Als er oben ankam, keuchte er, schnappte nach Luft, und der Schweiß rann ihm den Nacken hinunter.
    Die nächsten Minuten verbrachte er damit, sich in der schattigen Arena des Treppenhauses zu erholen. Über das San hatte sich eine absolute, durch nichts gestörte Stille gelegt, und er stellte sich Miss Muntz vor, die in ihrem Zimmer schlief, den Doktor in seiner Residenz, der auch im Schlaf noch richtig und kräftig atmete, Linniman, der in seinem Junggesellenquartier lüstern schnarchte, Eleanor, die endlich in einen leichten, mürrischen, traumlosen Schlaf gefallen war. Um diese Stunde war das oberste Stockwerk erlassen: keine Patienten, keine Ärzte, keine Schwestern, keine Pfleger. Will trat auf den Korridor, tastete sich an der Wand entlang bis zum grandiosen Eingang des Speisesaals, erwartete halb, Mrs. Stover dort wie einen dreiköpfigen Hund postiert zu sehen. Aber selbst Mrs. Stover mußte bisweilen schlafen. Kein Mensch

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