Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
brachten.«
    Für ungefähr fünf Minuten sprach sie auf diese Art weiter, bezaubernd und offenherzig, und im ganzen Saal war kein Zuhörer, den das, was sie sagte, nicht gerührt hätte, aber sie redete schließlich zu Eingeweihten, zu einer Gesellschaft von Neurasthenikern, und warum in Gottes Namen sprach sie so salbungsvoll? Will rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her und fragte sich, wann sie die Sache etwas leichter angehen und ihren satirischen Witz einbringen oder sogar ein bißchen den Clown spielen würde, wie es die Frau aus Island getan hatte, aber er wartete vergeblich. Sie verweilte bei ihren Symptomen und Sorgen auf eine Weise, die nach Symptomitis roch – aber das, so vermutete Will, war Teil der rhetorischen Strategie. Zuerst auf Teufel komm raus auf die Tränendrüsen drücken und dann das große Geschütz auffahren und eine donnernde Salve des Lobs auf den kleinen spitzbärtigen Heiligen abfeuern, der die Genesung ermöglicht hatte.
    So stolz er auch auf sie war, so schweifte er doch ab, als sie sich zu den Modalitäten der Bekehrung vorarbeitete, aber er war sofort wieder bei der Sache, als ihr die Worte »mein lieber Mann« über die Lippen kamen. Ihr »lieber Mann« machte jetzt durch, worunter sie gelitten hatte, als sie sich ans Licht kämpfte, und sein Gefallen an Fleisch, an alkoholischen Getränken – ja sogar, so fürchtete sie, an narkotisierenden Arzneien – war tief verwurzelt.
    Will schämte sich in Grund und Boden. Sie sah ihm voll ins Gesicht, und ein sanfter, mitfühlender Glanz erhellte ihre Züge, bis sie wie eine Heilige in einer römisch-katholischen Kirche zu strahlen schien, und alle Augen im Saal waren auf ihn gerichtet. Er wollte unter einen Stuhl kriechen, ein Anhänger Vater Kneipps in Wörishofen werden und barfuß durch den Schnee laufen, er wollte sich geißeln, er wollte, mehr als alles andere, rauchen, einen Whiskey kippen, gichterzeugende Koteletts und Steaks und Hühnerkeulen verschlingen, ihnen allen zum Trotz. Er kauerte sich gegen die physiologischen Sprossen seines Stuhls.
    Eleanor fuhr fort, seine Exzesse und die Abgründe der Verzweiflung, in die er gesunken war, während er sie in ihrem Kampf um Gesundheit im San unterstützte, in allen Einzelheiten zu beschreiben. Sie erzählte, wie sie ihn in betrunkenem Zustand gefunden hatte, mit beschmutzter Kleidung, dem Hund und den Dienstboten entfremdet, die ganze Nachbarschaft in heller Aufregung. Und dann holte sie so tief und herzzerreißend Luft, daß es schien, als würde die gesamte Versammlung durch sie atmen. »Und es war meine Schuld!« rief sie plötzlich und streckte die Arme aus, als wollte sie um mildernde Umstände bitten. »Einzig und allein meine Schuld. In meiner Selbstsucht, in meiner Krankheit, in meinem leidenschaftlichen Bestreben, positiv zu denken und um jeden Preis gesund zu werden, vernachlässigte ich meine Stütze, meinen Partner, meinen Mann. Er fiel, während ich die ersten taumelnden Schritte in Richtung Genesung tat.«
    Kein Laut, kein Atemhauch war zu vernehmen, kein Fuß tippte auf den Boden, kein Hüsteln oder Schniefen störte das ehrfürchtige Schweigen, das im Publikum herrschte. »Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte, meine lieben Freunde und Helfer und Sie, die Sie sich jetzt auf das Abenteuer der biologischen Lebensweise einlassen. Nein, lassen Sie mich mitteilen, daß er heute abend hier unter uns weilt.« Pause. Zwei Herzschläge. »Will? Will?« Sprach sie zu ihm? Zeigte sie auf ihn? Erwartete sie, daß er aufstand und in die Herde aufgenommen wurde? So war es. Und sie schritt zur Tat. »Will, bitte steh auf, Liebling.«
    Seine Knie waren verrostete Scharniere, seine Beine schwer wie Ankerketten. Applaus wurde um ihn herum laut, Bravorufe und »So ist’s recht, Junge!« Und dann war Eleanor bei ihm, ganz Zärtlichkeit und Süße, süß, süß war sie, und diesmal war sie es, die ihn umarmte.
     
    Nach dem Vortrag gab es Erfrischungen und das übliche Palaver. Die Händeschüttler und Gratulanten scharten sich in Sechserreihen um Eleanor, während Will, der sich in eine Ecke drückte, von einer Heerschar völlig fremder Menschen bedrängt wurde, die ihn umzingelten, herumdrucksten, mit den Füßen scharrten, ihn am Ellbogen nahmen, ihm auf die Schulter klopften und ihn mit ungebetenen Ratschlägen, karitativen Gedanken und Bekundungen mütterlicher Besorgnis überschütteten. Es war qualvoll und erstreckte sich über die Dauer von drei

Weitere Kostenlose Bücher