Willküra (German Edition)
sie für diese Unart rügen, überlegte der Willkürherrscher kurz, doch er wusste, dass sie auf Kritik immer nur zwei Reaktionen parat hatte. Entweder sie würde eine unerträglich lange Gegenrede halten, oder sie würde kommentarlos verschwinden.
Keine dieser beiden Varianten schien dem Willkürherrscher jetzt wünschenswert, denn er brauchte jetzt ihren Rat, also lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und ließ seiner Schwester ihre Unart durchgehen.
»Ein Willkürherrscher macht seine Arbeit nicht gut, wenn das Volk sich zufrieden beugt«, fuhr er fort und wurde wieder wütend. »Ihre verständnisvolle, optimistische Art zermürbt mich in meinem Amt. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.«
Plötzlich knallte er mit seiner Faust so laut auf den Tisch, dass seine Schwester dieses Mal sogar zusammenzuckte und wie ertappt aufhörte, an ihrem Fingernagel zu kauen.
»Schwester! Ich würde dich nie dazu befragen, wenn die Lage nicht ernst wäre. Aber sie ist jetzt ernst. Ich habe Angst um unsere Zukunft. Und zwar nicht um die Zukunft dieses Staates, sondern unser beider Zukunft. Denn wenn das Volk mich zum Rücktritt zwingt weil ich nicht genug Angst und Schrecken verbreite, dann wirst auch du dieses Schloss verlassen müssen.«
Der Willkürherrscher stand auf und ging wieder zum Fenster.
Wieso konnte es dem Gärtner so egal sein, dass er von einem Tag auf den anderen auf alle Annehmlichkeiten der Technik verzichten musste, fragte sich der Willkürherrscher, und wieso lächelt er dabei so debil, als sei es das Schönste auf der Welt? Sauer, ängstlich, in Habacht-Stellung soll er sein!
Nach einer Weile drehte sich der Willkürherrscher wieder zu seiner Schwester um. Die blieb völlig ungerührt.
»Du sagst gar nichts?«, sah er sie verständnislos an, schnaubte und setzte sich dann mit Schwung auf eine Holztruhe, die sofort unter ihm zu knarzen begann.
»Fürwahr!«, rief der Willkürherrscher und sprang von der Kiste sofort wieder auf. »Diese alte Kiste hat mehr Widerstand in sich als mein Volk. Findest du das nicht beschämend?«
Die Schwester des Willkürherrschers prüfte ihre Fingernägel.
Wann und warum hatte sie sich schon wieder den Ringfinger-Nagel abgekaut? Das war sicherlich eine unbewusste Handlung, dachte sie, aber was steckte da wohl hinter? Das würde sie so bald wie möglich in ihrem Buch ‚Die Geheimnisse der unbewussten Handlungen und die Erklärungen ihrer‘ nachsehen, entschied sie. Aber wo war das Buch eigentlich?
Zuletzt hatte sie es bei Jamel in der Hand gehabt. Sie hatte nachschauen wollen was es bedeutet, wenn ein Mann sehr viel Zeit im Bad verbringt.
Wenn es noch bei Jamel liegt, dachte sie leicht verärgert, dann müsste ich aber extra wieder runter in die Stadt gehen, um es mir zu holen.
»Ach, oder ich lasse ihn kommen!«, sagte sie laut, nicht ohne dabei ein bisschen frech den rechten Mundwinkel zu einem überheblichen Grinsen hochzuziehen, denn jede Äußerung, die sich auch sexuell deuten ließ, machte ihr eine große Freude.
Der Willkürherrscher konnte es nicht fassen.
»Ich versuche hier mit dir das Problem meiner Willkürherrschaft zu erörtern, das Problem unserer Zukunft, und du hast nichts anderes im Sinn als wieder jemanden kommen zu lassen?!«
Der Willkürherrscher grunzte leicht hektisch. »Schwester, du hast doch ein Problem!«
Sie schaute ihn genervt an.
»Ja, das habe ich wirklich. Ich habe einen abgenagten Fingernagel und weiß nicht mehr, wo ich mein Buch habe liegen lassen, das mir die unbewussten Handlungen erklärt.«
Der Willkürherrscher schaute sie irritiert an und zog eine Augenbraue hoch.
»Also hast du mal gewusst, wo du es hast liegen lassen?«, fragte er spitz.
»Nein, ich habe es wahrscheinlich irgendwo liegen lassen, kann mich aber nicht daran erinnern, wo.«
Der Willkürherrscher schüttelte besserwisserisch den Kopf.
»Du musst besser auf deine Wortwahl achten. Denn soeben sagtest du noch, dass du nicht mehr weißt, wo du es hast liegen lassen und das lässt mir nur den Schluss zu, dass du es einmal wusstest, dieses Wissen sich jedoch aus deinem Gedächtnis verlor.«
»Ach, König!«
»Was soll das schon wieder mit dem König?«, fuhr der Willkürherrscher sie korrigierend an. »Willkürherrscher, es heißt Willkürherrscher, Schwester!«
Die Schwester des Willkürherrschers hatte ihren Bruder zwar absichtlich mit ‚König’ angeredet, um ihn damit zu ärgern, aber jetzt hatte sie keine Lust,
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