Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Affäre, die dann jahrelang die Justiz beschäftigt. Ein weiterer bestochener Volksvertreter, der CSU-Mann Leo Wagner, wird sogar erst nach der Wende enttarnt. Wie immer die Sozialdemokraten an der Affäre mitgewirkt haben – dass sie involviert gewesen sind, als es im April 1972 um den Fortbestand ihrer Koalition mit der FDP ging, will einige Jahre später nicht einmal ihr Fraktionschef Herbert Wehner bestreiten. «Dies war schmutzig», verrät er im Januar 1980 dem NDR-Reporter Jürgen Kellermeier in einem Fernsehinterview, und mehr: Er kenne zwei Leute, die das wirklich «bewerkstelligt» hätten – «der eine bin ich, der andere ist nicht mehr im Parlament». Ob er damit seinen so treuen wie zwielichtigen Adlatus Wienand meint, der 1996 vom Oberlandesgericht Düsseldorf als Stasispion zu dreißig Monaten Gefängnis und Rückzahlung seines Agentenlohns in Höhe von einer Million Mark verurteilt wird, behält er für sich.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Bonner Republik betritt mit Leonid Breschnew ein KP d SU -Generalsekretär 1973 westdeutschen Boden.
Nimmt der vielzitierte «Kärrner» der SPD eine Tat auf sich, die ihm letztlich entschuldbar zu sein scheint, weil sie dazu diente, windigen Stimmenaufkäufern aus dem gegnerischen Lager entgegenzutreten? In der für ihn typischen Opferbereitschaft («Einer muss der Dumme sein») sieht er sich im Nachhinein als Retter des Bündnisses und legt im Übrigen auf die Feststellung Wert, den Kanzler nicht eingeweiht zu haben – was sich mit dessen Behauptung deckt, er sei ahnungslos.
Aber auch wenn schon vorher kaum ernsthaft zur Diskussion steht, dass sich der Regierungschef an dem Coup beteiligt haben könnte, ist das «Watergate in Bonn», wie der «Rheinische Merkur» den Skandal nennt, für die Koalition ein Desaster. Bis dahin nur aus vergleichsweise profanen Gründen kritisiert, nagt er vor allem an ihrer moralischen Integrität, und das umso nachhaltiger, als die Sozialliberalen offenkundig wenig zur Aufklärung beitragen wollen – Willy Brandt inklusive. Als sie ihren Mann gefragt habe, wie weit sich die SPD tatsächlich in den Fall verstrickt haben könnte, erinnert sich Ehefrau Rut, sei sie von ihm damals mit der denkbar knappsten Antwort abgespeist worden: «Woher soll ich das wissen?»
Statt daheim im sumpfigen Terrain herumzuwaten, zieht es den Kanzler auf die lichten Höhen der Diplomatie. Wie Reisebegleiter berichten, geht es ihm bei seinen Touren in ferne Länder so gut, dass er bereits kurz nach dem Start der Maschine jede Menge Anekdoten erzählt und unbeschwert seiner Spottlust freien Lauf lässt.
Doch solche Verschnaufpausen sind nicht von langer Dauer. In Bonn ärgert sich Brandt Ende Mai erst über Herbert Wehner, der ihn ohne jede Vorankündigung davon in Kenntnis setzt, dass er sich in Ostberlin mit dem SED-Generalsekretär Erich Honecker verabredet habe, und tags darauf erscheint der Innenminister Hans-Dietrich Genscher, um ihn über einen Spionageverdacht gegen seinen im Kanzleramt tätigen Referenten, Günter Guillaume, zu unterrichten, dem er aber zunächst wenig Bedeutung beimisst.
Stärker nimmt den Kabinettschef eine Entwicklung gefangen, die im Laufe des folgenden halben Jahres ungeahnte Wirkung entfaltet. Deutschlands Fluglotsen, etwa anderthalbtausend beamtete Techniker, verständigen sich auf einen «Dienst nach Vorschrift», um eine Anpassung ihrer Bezüge an die Gehälter der besser bezahlten Piloten zu erzwingen – eine juristisch mehr als zweifelhafte Kampfmaßnahme, die zudem den Staat in Verruf bringt. Schließlich hat die Exekutive keine Handhabe, gegen den Bummelstreik vorzugehen, und muss deshalb ohnmächtig zusehen, wie in den Ferienmonaten zahllose Urlauber über Tage hinweg in den Terminals auf ihren gepackten Koffern sitzen oder die Reiseziele oft gar nicht erreichen. Je weiter sich das Chaos ausbreitet, desto größer der Volkszorn auf die angeblich unfähige Regierung.
Für Willy Brandt und seine bedrückte Koalition ist dieser Eigensinn einer hart am Rande der Erpressung operierenden hochspezialisierten Elite die Ouvertüre zu weiteren erheblichen Konflikten. Die Sturheit der Fluglotsen ermuntert die Angehörigen anderer Berufssparten, ebenfalls aufzubegehren: Nach spontanen Arbeitsniederlegungen in der Metallindustrie proben punktuell bald die Müllwerker und sogar Gruppen aufmüpfiger Totengräber den Ausstand. Der bis dahin einigermaßen beständige soziale Friede gerät zunehmend in Gefahr.
Die Wut
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