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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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der Streikenden richtet sich dabei nicht zuletzt gegen den «Lohnraub» des Staates, vorweg das im Mai verabschiedete «Zweite Stabilitätsprogramm», das die öffentlichen Ausgaben begrenzen und die Verhandlungspartner in den bevorstehenden Tarifrunden zu maßvollen Abschlüssen anhalten soll. Aus der Warte des Finanzministers, der die mittlerweile besorgniserregende Inflation einzudämmen versucht, ist das eine sicher verständliche Direktive – für die Bezieher kleinerer Einkommen aber angesichts der horrend steigenden Verbraucherpreise eine Zumutung.
    Die Lage wird insbesondere für die regierende SPD noch ungemütlicher, als der Bundesausschuss der Jungsozialisten, die immerhin eine Viertelmillion Mitglieder zählen, die wilden Streiks unterstützt. Der besorgte Kanzler verurteilt die Resolution – sie sei sowohl der Sache der Partei als auch ihrer Solidarität mit den Gewerkschaften «abträglich» –, doch setzt er sich mit diesem Ordnungsruf nur entschlossen zwischen alle Stühle. Auf dem rechten Flügel vermisst man ein klares Machtwort, während er in der Nachwuchsorganisation und unter den widerspenstigen Altlinken süffisant der «Schaukelei» geziehen wird.
    Da gefällt es dem Vorsitzenden umso mehr, dass er Ende September in New York eine ihm sehr viel angemessenere Bühne betreten und nach dem im Frühjahr ratifizierten deutsch-deutschen Grundlagenvertrag den Einzug beider Staaten in die Vereinten Nationen verkünden darf. In einer penibel vorbereiteten Rede versichert er der Vollversammlung der UNO, seine Regierung trage sich nicht mit der Absicht, die Völkergemeinschaft als «Klagemauer» für die eigenen Probleme zu missbrauchen – «wir sind gekommen, um auf der Grundlage unserer Möglichkeiten weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen».
    Willy Brandt will die Ernte seiner Ostpolitik einfahren, doch welche Fortschritte die wirklich mit sich bringt, ist gerade in jenen Wochen heftig umstritten. Anfängliche Befürchtungen, die DDR werde sich nur so lange kooperativ verhalten, wie es aus ihrer Perspektive nötig sei, um die herbeigesehnte Anerkennung und Gleichberechtigung zu erreichen, scheinen sich zu bestätigen. Seit der Unterzeichnung der Dokumente igelt sich das von Ängsten vor einer schleichenden Unterwanderung geplagte SED-Regime wieder ein und stößt sich vor allem daran, wie die Bonner Koalition die für Berlin getroffene Regelung interpretiert.
    Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht dabei ein in der westlichen Teilstadt geplantes Umweltbundesamt – ein Projekt, dem sich in erster Linie die Liberalen verschrieben haben und das die Einheitssozialisten jenseits der Mauer als «illegal» befehden. Herbert Wehner, der das Viermächteabkommen ohnehin schon in der «Gefahr eines Ausgelaugtwerdens» sieht, denkt darüber ähnlich und kritisiert den Kanzler heftig dafür, dass er sich nicht entschieden querlegt. Wer nur gedankenlos und egoistisch «draufsattele», werde das filigrane Vertragswerk schnell «verschleißen».
    Wie sich später herausstellen wird, ist es die ausbleibende Resonanz auf solche Warnungen, dass sich der zusehends verhärtende Fraktionschef zur größten Entgleisung hinreißen lässt, die die SPD bis dahin je erlebt hat. Willy Brandt konferiert noch in den USA, als Wehner mit einer Delegation des Bundestages zum ersten Mal seit seiner Moskauer Zeit wieder in die Sowjetunion reist und ihm ausgerechnet dort die Galle überläuft. In Gesprächen mit Journalisten denunziert er die «Nummer eins» seiner Regierung wutschnaubend als unzuverlässiges Leichtgewicht, das «entrückt» und «abgeschlafft» sei («… der Herr badet gern lau, so in einem Schaumbad») und zumal in der Deutschland- und Ostpolitik längst das nötige Augenmaß verloren habe.
    Ein in der Geschichte der Bundesrepublik, wie es nicht nur der inzwischen zum Oppositionsführer aufgestiegene Helmut Kohl empfindet, «ungeheuerlicher Vorgang». Bei Auslandsaufenthalten über Kollegen herzufallen, gehört bis dahin selbst unter Mitgliedern gegnerischer Parteien zu den denkbar größten Sünden – und nun redet sich dieser sittenstrenge Genosse, ein Vorbild an Disziplin und Gradlinigkeit, mutwillig um Kopf und Kragen! Nahezu alle erwarten daher, dass der Kanzler konsequent zurückschlagen und den Querulanten aus seinem Amt jagen wird.
    Aber Brandt, der sich gerade auf dem Flug von Chicago nach Colorado Springs befindet, als ihm sein Pressechef Rüdiger von Wechmar die Agenturmeldungen über

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