Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Macht und die Erfahrung ihrer Grenzen», kommentiert der Redenschreiber das Eingeständnis in seinem Tagebuch, seien «für den Sensiblen Anlass, in Traurigkeit abzustürzen».
Seine «Empfänglichkeit für Verstimmungen», die der in friedensbewegten Kreisen seinerzeit populäre Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter bei ihm diagnostiziert, lässt ihn phasenweise in lähmender Passivität erstarren, befördert bisweilen aber auch die Tendenz, in eine Art trotzig behaupteten Stolz zu flüchten. Bei einem privaten Besuch erlebt ihn so etwa der darüber sichtlich irritierte Erhard Eppler – sonst ein erklärter Anhänger Brandts –, der sich danach dem Politikwissenschaftler Martin Rupps anvertraut: Der Gastgeber sei «in Selbstbewunderung über sich, den Nobelpreisträger, versunken gewesen und habe jeden Appell, rasch die Regierungsgeschäfte wieder aufzunehmen, mit abweisenden Gesten bedacht».
Angesichts der innerparteilichen Lage kann sich der Kanzler solche Rückzüge eigentlich nicht mehr leisten. Schon nach dem Wirbel um Karl Schiller im Krisensommer 72 hatte ihm Helmut Schmidt gedroht, sein Verbleiben im Kabinett an konkrete Bedingungen zu knüpfen – und trotz des rauschenden Wahlsieges legt er jetzt noch einmal nach. In einer siebzehn Seiten langen, von Herbert Wehner offenkundig unterstützten Mängelliste macht er den Vorsitzenden für das diffuse Erscheinungsbild der SPD verantwortlich und kreidet ihm überdies an, als Regierungschef «die Zügel schleifen zu lassen».
Seit Brandt im September 1969 die Staatsgeschäfte gleichsam im Handstreich an sich riss, hat sich das in der «Troika» schon vorher gelegentlich zu beobachtende Misstrauen noch spürbar verstärkt. Je mehr der «Nummer eins» daran gelegen zu sein scheint, eigene Wege einzuschlagen, desto öfter suchen die beiden hierarchisch nachgeordneten Genossen den Schulterschluss, wenngleich sie dabei ihren Kollegen auch aus eher unterschiedlichen Motiven attackieren: Macht der forsche Hanseat ein über das andere Mal keinen Hehl daraus, dass er sich «Führung» ganz anders vorstellt, als sie im Palais Schaumburg praktiziert wird, sorgt sich der zusehends verbiesterte «Onkel» in erster Linie um seinen Einfluss.
Bei dem inzwischen erreichten Grad der Entfremdung erstaunt es nicht, wenn sowohl Schmidt als auch Wehner die angeblich depressiven Schübe des indisponierten Kanzlers als reine Ausreden abtun. «Fakt ist», echauffiert sich der zweite sozialdemokratische Regierungschef noch als alter Mann, «dass er mal wieder abgetaucht war, und wir hatten den Schlamassel zu beseitigen.»
Und die Konfrontation im roten Führungstriumvirat verschärft sich weiter. Im Frühjahr 1973 kündigt Wehner, den Brandt vergebens auf den Stuhl des Bundestagspräsidenten wegzuloben versucht hatte, seinen Rückzug aus der SPD-Spitze an. Aufgrund seiner labilen körperlichen Verfassung stehe er als Stellvertreter nicht mehr zur Verfügung, doch der Vorsitzende wertet den mit niemandem abgesprochenen Amtsverzicht eher als «Kampfansage»: Er befürchtet, dass der machtbewusste Stratege die engen Fesseln eines Vize nur abstreifen will, um sich besser als «Gegenfigur» in Szene setzen zu können.
Auf der Ebene der Exekutive gibt es die schon. Der vor der Wahl praktisch bereits zum Kronprinzen beförderte Genosse Finanzminister lässt – wie Brandt leicht pikiert anmerkt – keine Chance mehr aus, sich als «innerparteilicher Herausforderer» zu profilieren, und das nicht nur mit flotten Sprüchen. Seit Februar darf sich Schmidt rühmen, in einem von monetären Turbulenzen gekennzeichneten Jahr den lange Zeit widerspenstigen Richard Nixon zur Aufwertung des Dollars bewogen zu haben, was in Bonn akkreditierte Wirtschaftsjournalisten auf die Idee bringt, den durchsetzungsstarken Hamburger bereits zum «Nebenkanzler» auszurufen.
Den Regierungschef scheint dagegen das Glück verlassen zu haben. Mit der Erledigung seiner historischen Aufgabe, wird nach der Jahrtausendwende der Parteienforscher Franz Walter in einem Essay über die Sozialdemokratie festhalten, teilt er in jenen Monaten das in der Weltgeschichte immer wieder beschriebene Schicksal aller ähnlich beschaffenen politischen Koryphäen: «Der vormals so charismatische Führer leuchtet und glänzt nicht mehr; er ist nicht mehr der große Erlöser und Retter, sondern nur noch profan, gewöhnlich, irdisch.» Und während das Volk diesen Wandel mit zunehmender Ernüchterung begleite, reagiere er selber auf
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