Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Wehners Ausfälle serviert, hält sich bebend im Zaum. Den Fraktionschef einfach «rauszuschmeißen», wie der neben ihm sitzendende Reporter der «Süddeutschen Zeitung», Hans Ulrich Kempski, spontan empfiehlt, würde schließlich Helmut Schmidt den Weg ebnen, und das schreckt ihn noch mehr. Also übt er sich in Selbstzucht und folgt schließlich seinem Souffleur Egon Bahr, der es für besser hält, bei der ohnehin problematischen innenpolitischen Lage auf einen nur schwer vorauszuberechnenden finalen Zweikampf zu verzichten. Ein falscher Rat, wie sich der Freund später zweifelnd fragt? Nach seinem Rücktritt wird sich der Exkanzler jedenfalls immer wieder vorwerfen, er hätte wohl besser daran getan, der «unerträglichen Sudelsprache» seines Kritikers mit der einzig möglichen Reaktion zu begegnen: «Er oder ich» – doch dazu fehlt ihm der Schneid. Aus der Retrospektive betrachtet, ist für die meisten professionellen Beobachter der Bonner Szene die Unfähigkeit des chronisch konfliktscheuen Willy Brandt, den empörend unsolidarischen Parteifreund in die Schranken zu weisen, der eigentliche Anfang vom Ende seiner kurzen Regentschaft.
Oder konnte er gar nicht anders? Schließlich zeigt sich bald, dass ihm damals wohl tatsächlich der nötige Rückhalt gefehlt hätte, um aus einem derartigen Showdown als Sieger hervorzugehen. So nennt etwa Helmut Schmidt bezeichnenderweise lediglich Wehners Stil «formal ungehörig»; inhaltlich – so lässt sich diese merkwürdige Formulierung wohl nur verstehen – findet er dessen Tiraden durchaus gerechtfertigt, und als unmittelbar nach der Rückkehr der beiden Rivalen der SPD-Vorstand eine Resolution über den Zustand und künftigen Kurs in der Ostpolitik verabschiedet, nehmen elf von einundzwanzig Mitgliedern an dem Moskauer Eklat keinen Anstoß.
Für den Kanzler, der sich von der Abstimmung fernhält, weil es ja auch um ihn geht, ein Debakel. Gerade mal gut zehn Monate nach seinem Triumph vom November 1972 stellen sich die Machtverhältnisse in den Spitzengremien der Sozialdemokraten wieder als ähnlich kompliziert dar wie in früheren Jahren. Er und Wehner (und in dessen Schlepptau Schmidt) verfügen über zwei annähernd gleich starke Bataillone, die sich im Ernstfall gegenseitig blockieren. Den Fraktionsvorsitzenden seines Ausrasters wegen auf verlorenem Posten gesehen zu haben, kommentiert danach Bundesgeschäftsführer Holger Börner, sei eine im Lager des Parteichefs verbreitete «völlige Verkennung der Gewichte» gewesen.
Doch Willy Brandt bleibt in diesem stürmischen Herbst wenig Zeit, seine Wunden zu lecken. Ab der ersten Oktoberwoche verdrängen neue Schlagzeilen das tiefe innenpolitische Zerwürfnis. Der Blick richtet sich nach Nahost, wo die arabischen Staaten im sogenannten Jom-Kippur-Krieg zum dritten Mal versuchen, das verhasste Israel zu vernichten, und den Waffengang mit einer drastischen Drosselung ihrer Erdölexporte verbinden, während die westlichen Industrieländer von einem Tag auf den anderen in Panik geraten. Um den Energieverbrauch zu senken, werden in der Bundesrepublik sogar hektisch autofreie Sonntage verordnet, und gähnend leere Straßen symbolisieren den jähen Kollaps eines bis dahin unerschütterlichen Glaubens an ewiges Wachstum, der nicht zuletzt auch von den Sozialliberalen gepredigt worden ist.
Erheblich unter Druck steht der Kanzler darüber hinaus, weil sich sein noch im Frühjahr so guter Kontakt zu Richard Nixon unvermittelt verschlechtert. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Amerikaner von ihren in Westdeutschland gelegenen Nachschubbasen Rüstungsgüter nach Tel Aviv verladen, ohne Bonn zu konsultieren, veranlasst ihn zu einer Protestnote. Die Stützpunkte, argumentiert er, würden zu Zwecken genutzt, die «nicht Teil der Bündnisverantwortung sind» – eine Argumentation, mit der er sich prompt eine Rüge einhandelt. Dass seine Regierung zwischen den Verpflichtungen, die sich für sie aus dem Nato-Pakt ergäben, und ihrer Haltung zum Krieg in Nahost eine «so feine Trennlinie» zöge, findet der Präsident befremdlich.
So ungerechtfertigt diese Belehrung ist – denn Willy Brandt darf von sich behaupten, dass der Fortbestand Israels zu den Kernpunkten seiner Politik gehört –, so sehr bringt sie ihn in die Bredouille. Um die wichtigste Macht in der Allianz nicht weiter zu verprellen, schlägt er sich in einem Streit zwischen der EG und den USA über die besten Wege zur Sicherung der Ölversorgung vorsichtig
Weitere Kostenlose Bücher