Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
auf die Seite Amerikas und nimmt damit in Kauf, nun zwangsläufig die Franzosen zu verärgern. Paris, das sich von Washington zu emanzipieren bemüht, beschuldigt ihn gereizt «des Verrats an der gemeinsamen europäischen Sache».
In der Bundesrepublik bleibt er zwar für alle, die seine zuweilen ambivalenten Verhaltens- und Vorgehensweisen als Ausdruck von Redlichkeit und Reife schätzen, noch «Kanzler der Herzen», aber die Zahl der Gegner wächst. Vorher zu Recht gepriesene Eigenschaften, etwa seine Fähigkeit zur Empathie oder das enorme Geschick, unüberwindlich erscheinende Gegensätze einzuebnen, gelten jetzt immer öfter als Zeichen mangelnder Entschlusskraft und des Verzichts auf die nötige klare Linie. «Willy Wolke» zieht nicht mehr.
In welchem Umfang er an Autorität und Ansehen verliert, ist ihm durchaus bewusst. «Im Laufe des Jahres 73 wurde erkennbar, dass Getreue, an deren Unterstützung mir liegen musste, auf Distanz gingen», klagt er in seinen Memoiren, und der Trend verstärkt sich. Mitte Dezember unterrichtet ihn Walter Scheel offiziell von der Absicht, das Amt des Staatsoberhaupts anzusteuern; er wolle sich seinen Wunsch aber bloß erfüllen, wenn sich der Kollege nicht mit dem gleichen Gedanken trage.
Dass der Regierungschef diese Überlegung seines Koalitionspartners als «leicht gönnerhaft» empfindet, mag vor allem mit Herbert Wehner zu tun haben. Der hat ihn schon vorher dazu bewegen wollen, aus der Schaltzentrale der operativen Politik in die Villa Hammerschmidt umzuziehen – in den Augen Brandts der durchschaubare Trick eines Rivalen, ihn auf ein Nebengleis abzuschieben, weshalb er den «nicht nur freundschaftlichen Rat» verwirft. Immerhin müsste er dann ja auch dem Parteivorsitz entsagen, in dem er sich schlicht für «unabkömmlich» hält.
So sieht er sich jetzt zunehmend in einem Wechselbad der Gefühle. Von dem einstmals festen Willen, in der deutschen Nachkriegsrepublik die Führung zu erobern, um das bleierne Land umzugestalten, ist kaum noch etwas zu spüren. Kanzler werden zu wollen, hatte in ihm über anderthalb Jahrzehnte und vier Kandidaturen hinweg ungeahnte Kräfte freigesetzt, es nun aber zu sein und auf dem Job zu beharren, scheint ihn zumindest in dunklen Stunden immer weniger zu interessieren.
Wie sehr sein ursprünglich vitales Verhältnis zur Macht erodiert, zeigt sich insbesondere an der ebenso hektischen wie letztlich wachsweichen Reaktion auf den «Skandal von Moskau». Wochenlang erweckt er den Eindruck, der Bruch mit seinem Herausforderer sei nicht mehr zu heilen – und befasst sich sogar mit dem etwas wirren Plan, zu seiner Rückenstärkung im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen –, um sich dann doch plötzlich auf ein Arrangement einzulassen. In einer Gebärde der Unterwürfigkeit bittet ihn der listige Wehner bei einigen Gläsern Rotwein, es noch einmal mit ihm zu «versuchen», und erreicht sein Ziel.
Ein Burgfrieden, der Brandt indessen nur eine kurze Verschnaufpause beschert. Schon bald wirft auch ein anderer berühmter Weggefährte, der SPD-Wahlhelfer Günter Grass, dem sozialliberalen Bündnis «Schlafmützentrott» und seinem regierenden Freund «Lustlosigkeit» vor – und das aus guten Gründen. In einem Rückblick auf seine Bonner Jahre wird später selbst der damalige Leiter des Kanzlerbüros, Reinhard Wilke, den zu jener Zeit ausgeprägten Hang seines Chefs beklagen, unvermittelt alle Termine abzusagen und «die Flucht» zu ergreifen.
Er könne «dieses Scheißhaus nicht mehr sehen», zitiert ihn der vormalige Richter am Kölner Verwaltungsgericht, um dann detailliert das Tohuwabohu zu schildern, das in Brandts engstem Umfeld geherrscht habe. In seinem leicht hysterischen Beraterkreis sei in der zunehmend verkorksten zweiten Legislaturperiode jeder über jeden hergezogen und dem zum Selbstmitleid neigenden labilen Gemütsmenschen schwer auf die Nerven gefallen.
Um den Kanzler wird es einsamer. In den Medien geht der «Spiegel», der den nonkonformistischen Entspannungspolitiker lange Zeit nach allen Regeln der Kunst hochgeschrieben hatte, mit einer Titelgeschichte brutal auf Konfrontationskurs. «Das Monument bröckelt», verkündet das Nachrichtenmagazin einige Tage vor dessen sechzigstem Geburtstag und berichtet nicht nur hämisch darüber, wie im Kabinett bereits auf seine Kosten gelacht werde. In Bonn, enthüllt das Blatt, seien auch schon die ersten Stimmen zu vernehmen, die ungeniert Brandts Sturz ins Kalkül
Weitere Kostenlose Bücher