Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Alleingänge» zähneknirschend auf sich beruhen.
Stattdessen feilt er akribisch an seiner Regierungserklärung. Im Gegensatz zur Rede von 1969, die inflationär vom Modewort «Reform» überfrachtet war, verheißt der Bundeskanzler den Deutschen eine mit Augenmaß an den Realitäten orientierte Legislaturperiode, verfällt dann aber in manchen Passagen doch wieder in den alten hohen Ton. So propagiert er emphatisch den in der «sozialen und liberalen Mitte» beheimateten Bürger, der sich nach seiner Wahrnehmung Schritt für Schritt «vom Bourgeois zum Citoyen» wandelt, um in seinem Staats- und Gesellschaftsverständnis eine «neue demokratische Identität» zu entfalten.
Dass die Koalition solchen Träumen schwerlich gerecht werden kann, hat sie bei allen Verdiensten bereits in ihren ersten drei Jahren bewiesen, und auch die im zweiten Anlauf beträchtlich ausgebaute Mehrheit ändert daran nichts. Sowohl in der FDP, die auf beachtliche 8,4 Prozent angewachsen ist, als auch in weiten Teilen der SPD verstärkt sich die Tendenz, die bisher geübte Zurückhaltung aufzugeben und mit ständig weiter ausgreifenden, kaum in ein gemeinsames Konzept unterzubringenden Forderungen ihre jeweilige Klientel zu bedienen.
Die am Wahlabend von den Demoskopen bestätigte Erkenntnis, nach der der Sieg des Bündnisses über die Union hauptsächlich der Popularität Willy Brandts zu verdanken ist, verflüchtigt sich bald. Während die Liberalen um den kühl kalkulierenden Innenminister Hans-Dietrich Genscher ihre Rolle als glaubwürdige Hüter der Marktwirtschaft honoriert sehen und unmissverständlicher denn je eine wirtschaftsfreundlichere Politik anmahnen, brechen in der Sozialdemokratie die mühsam zugeschütteten Gräben wieder auf. Dem pragmatischen Mitte-rechts-Flügel stehen die immer zahlreicher in die Partei strömenden neomarxistischen «Theoretiker» gegenüber, die den Staat als «Vollzugsorgan von Kapitalverwertungsinteressen» schmähen.
Nahezu täglich hat sich der Kanzler nun mit neuen Problemen herumzuschlagen. Nach dem Affront seiner Weggefährten bei der Umbildung des Kabinetts und den zusehends aggressiven Attacken radikaler «Systemüberwinder», die endlich den Sozialismus verwirklichen wollen, bedrücken ihn unter anderem die Pläne Walter Scheels. Den vergleichsweise unkomplizierten und stets verlässlichen Rheinländer, dem er sich enger verbunden fühlt als vielen seiner eigenen Leute, lockt die Gelegenheit, den amtsmüden Bundespräsidenten Gustav Heinemann beerben zu können, weshalb er sich mit dem Gedanken trägt, seinen Job als Außenminister und FDP-Vorsitzender dranzugeben.
Am meisten belastet Brandt aber zunächst einmal die Versetzung Ehmkes. Die erheblich umgekrempelte Schaltzentrale der Macht wird nun vom ehemaligen Berliner Senator Horst Grabert geleitet, der als Staatssekretär weder den Minister für «besondere Aufgaben», Egon Bahr, noch den Berater Günter Gaus oder den Redenschreiber Klaus Harpprecht dazu bewegen kann, ihr Ego zugunsten des dringend benötigten inneren Zusammenhalts des Teams etwas zu zügeln. Bei aller individuellen Brillanz und Gefolgschaftstreue gegenüber dem Kanzler liegen die von Helmut Schmidt verächtlich als «Hofschranzen» verspotteten Zuarbeiter untereinander permanent im Clinch.
Für das Ziel des Regierungschefs, in der zweiten Legislaturperiode etwas ruhigeres Fahrwasser zu erreichen, sind das nicht die besten Voraussetzungen – doch noch schlechter steht es um ihn selber. Er steckt, wie er rückblickend freimütig einräumt, in einem anhaltenden «Formtief». Den «kapriziösen Primadonnen» im Kabinett oder den «eingebildeten Revolutionären» in der Partei energisch den Riegel vorzuschieben, glaubt er sich in diesen prekären Wochen der Jahreswende 1972/73 schon aus persönlichen Gründen versagen zu müssen. Nachdem ihm seine Ärzte strikt das Rauchen verboten haben, leidet der von Jugend an nikotinsüchtige Genussmensch «wie ein Hund» und geht auch deshalb vermeidbaren Konflikten strikt aus dem Wege.
Statt auf seiner Richtlinienkompetenz zu beharren – was er sich bei dem Kredit, über den er im Volk nach wie vor verfügt, wohl leisten könnte –, zieht sich der sichtlich erschöpfte Willy Brandt kleinlaut zurück. So teilt er Anfang März seinem Freund Klaus Harpprecht mit, ihn hätten im Nachgang zu einer an sich gar nicht so schlimmen Grippe «die schrecklichsten Depressionen heimgesucht», von denen er sich nur langsam erhole. «Die
Weitere Kostenlose Bücher