Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
seine Entmythologisierung apathisch.
Mit zwei vergleichsweise prosaischen, aber ähnlich klaren Sätzen sieht im Übrigen auch Egon Bahr den aus der Balance geratenen Freund am Scheitelpunkt seiner Karriere. «Die sozialliberale Koalition und Willy Brandt», notiert er rückblickend im schmucklosen Stil eines Protokollanten, «hatten am 19. November 1972 den Gipfel erreicht. Von nun an ging’s bergab.»
So glatt und nachvollziehbar sich solche Urteile aus der Distanz lesen, so unvorhersehbar ist zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode der im Laufe des Jahres dann tatsächlich einsetzende Machtverfall des Kanzlers. Trotz des fortwährenden Geraunes über seine Lethargie und den Zwist in der Parteiführung gilt er zumindest noch für einige Monate als die alles überragende politische Gestalt. Auf internationalem Parkett in den Rang eines hofierten Staatsmanns erhoben, gibt es in der Bonner Republik niemanden, der ihm auch nur annähernd das Wasser reichen könnte.
Welche Autorität und Integrationsfähigkeit noch in ihm steckt, bekräftigt er im April nach seiner Wiedergenesung auf dem Bundeskongress der SPD in Hannover. In einer meisterhaft nuancierten, seiner vielleicht besten Rede markiert der Vorsitzende dort den Standort einer modernen Sozialdemokratie in den Grundzügen des Godesberger Programms und verteidigt dabei entschieden, was er darüber hinaus für geboten hält. Aus der Warte des «Arbeiterjungen, der keinen Nachholbedarf hat, wenn es um einen proletarischen Adelsnachweis geht», warnt er die Linken vor einem bloß Staub aufwirbelnden revolutionären Aktionismus, der «in erloschene Vulkane pustet», nimmt sie zugleich aber auch energisch vor rechter Selbstgefälligkeit in Schutz.
Dass sich die Partei nicht spaltet – eine nach Wochen erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den Flügeln durchaus reale Gefahr –, hat in erster Linie mit ihrem Chef zu tun. Der versetzt den Konvent, wie ihn der begeisterte Berater Klaus Harpprecht preist, drei Tage lang «in Hypnose», um in einer «monumentalen Manier», so der «Spiegel», Maß und Mitte zu verkörpern. Am Ende ist er fast wieder der «Willy» vom goldenen Herbst 1972, dem Traditionalisten und Neomarxisten gleichermaßen frenetisch zujubeln und den sie schließlich mit einem Rekordergebnis im Amt bestätigen.
Von einem Niedergang jedenfalls keine Spur. Im Olymp seiner Partei scheinbar unangefochten, steht der Vorsitzende in jenem Frühling auch als Außenpolitiker glänzend da. Zum ersten Mal betritt mit Leonid Breschnew ein sowjetischer KP-Generalsekretär westdeutschen Boden, und die Selbstverständlichkeit, mit der man dabei nicht nur die Chancen einer wirtschaftlichen Kooperation erörtert, sondern sich persönlich näherkommt und sogar an den Austausch von Fronterfahrungen herantraut, verleiht dem Brandt’schen Versöhnungswerk einen zusätzlichen Schub. Sehr viel eindrucksvoller lässt sich der Übergang vom Kalten Krieg zu neuen Formen des Miteinanders kaum mehr veranschaulichen.
Die Bundesrepublik bis zur endgültigen Verabschiedung eines Friedensvertrags durch die Akzeptanz der Realitäten aus der Selbstfesselung zu befreien und dabei den Zusammenhalt der Nation nie aus dem Blick zu verlieren, ist stets das Ziel dieses Kanzlers gewesen – und auf dem Weg dorthin reiht sich nun eine erfolgversprechende Etappe an die andere. Binnen dreier Monate trifft er mit dem Kreml-Herrn und seinem Pendant im Weißen Haus die beiden mächtigsten Männer der Welt und reist zwischendurch nach Belgrad und Tel Aviv, um mit gewichtigen politischen Repräsentanten wie dem Marschall Tito und Golda Meir zu konferieren. Doch so sichtbar die deutschen Entspannungsbemühungen Früchte tragen, so wenig kann die allerorten gerühmte Souveränität seiner Auftritte darüber hinwegtäuschen, dass er auch dem Bonner Alltag zu entfliehen versucht.
Willy Brandt kann sehr charmant sein; politische Gegner versuchen, ihm außereheliche Affären anzudichten.
Denn der bereitet ihm bald wieder schlaflose Nächte. Seit Mitte Mai verdichtet sich in der Bundeshauptstadt das Gerücht, der CDU-Abgeordnete Julius Steiner habe sich bei Rainer Barzels Misstrauensvotum der Stimme enthalten und dafür, wie er einige Wochen später in einer Pressekonferenz eingesteht, fünfzigtausend Mark bekommen – angeblich vom Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, Karl Wienand. Es ist der Beginn einer spektakulären, im Wesentlichen vom Staatssicherheitsdienst der DDR gesteuerten
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