Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
zögen.
Im Frühjahr 1974 suchen die verfeindeten SPD -Granden Herbert Wehner und Willy Brandt noch einmal den Schulterschluss, doch erzielen sie lediglich einen brüchigen Burgfrieden.
Die lauter werdende Kritik an seiner auffällig apathisch wirkenden Art, in der er den Ölpreisschock und andere Miseren wie den fortdauernden Krach mit den Jusos oder die Alleingänge einer immer selbstbewussteren FDP zur Kenntnis nimmt, schlägt sich zur Jahreswende 1973/74 in besorgniserregenden Umfrageergebnissen nieder. Die Zufriedenheit der Bundesbürger mit seinem Regierungsstil schrumpft von siebenundfünfzig Prozent im Herbst 1972 auf Werte unter vierzig, und das Wort von der «Führungsschwäche» fehlt jetzt nicht einmal mehr in den Kommentaren derer, die ihm nach wie vor wohlgesinnt sind.
Der Entzauberungsprozess schreitet umso schneller voran, je deutlicher nach den raschen Vertragsabschlüssen auch die Ostpolitik stagniert. Vor allem schmerzt den Kanzler die Kaltschnäuzigkeit, in der das SED-Regime den für Westbesucher geltenden Mindestumtauschsatz verdoppelt, wodurch sich die Zahl der Reisenden fast um die Hälfte reduziert. «Wir stehen unter dem Eindruck», beschwert er sich deshalb brieflich beim Kreml-Herrn Breschnew, «dass die DDR seit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen kaum noch geneigt ist, irgendwelche Anstrengungen zu machen, um zu einer Normalisierung mit der Bundesrepublik Deutschland zu kommen.»
Im Bonner Alltagsgeschäft wirkt er dagegen zusehends blasser. Obschon er mit einigen Vertrauten selbst während der Feiertage lange über einen Befreiungsschlag nachsinnt, erweist sich die Stimmungslage als ernüchternd. Weil die meisten Menschen, wie der Regierungschef lakonisch zu Protokoll gibt, «von Reformen offenbar genug» hätten, soll zunächst einmal nur das Krisenmanagement verbessert werden – doch schon wenige Tage darauf unterläuft ihm prompt der bis dahin folgenschwerste Fauxpas.
Unter Berufung auf seine vorher nur selten beanspruchte Richtlinienkompetenz appelliert er in einer Parlamentsdebatte an die «Kraft der Vernunft», um sich dann leicht verwegen im Hinblick auf die anstehenden Tarifverhandlungen mit der mächtigen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr praktisch zur letzten Instanz zu ernennen. Die vom Vorsitzenden Heinz Kluncker geforderten Lohnerhöhungen von fünfzehn Prozent will er unter keinen Umständen hinnehmen; der angesichts der explodierenden Energiekosten gebeutelte Staatsetat, legt sich der Kanzler unvorsichtigerweise fest, erlaube bestenfalls, die Realeinkommen zu sichern.
Aber Willy Brandt beißt auf Granit. Der bullige, für seine Kompromisslosigkeit bekannte ÖTV-Boss denkt nicht im Traum daran, den gewaltig unter Erfolgsdruck stehenden Parteifreund mit einem Genossenbonus zu entlasten. Bei einer Urabstimmung votieren die Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik, und so türmt sich im Februar 1974 rasch der Müll auf den Straßen. Nach einigen Tagen lenkt der Bund kleinlaut ein: Mit den Nebenleistungen bekommen die Beschäftigten künftig nahezu dreizehn Prozent mehr Gehalt.
Was bedeutet es da schon, dass sich der Kanzler darauf berufen darf, im Stich gelassen worden zu sein? Dass erst die in Panik geratenen kommunalen Arbeitgeber aus der zuvor fest vereinbarten Einheitsfront ausgestiegen sind, hilft ihm im Nachhinein ebenso wenig wie sein gerechtfertigter Zorn auf Helmut Schmidt. Der hatte ihn dringend gewarnt, in die Knie zu gehen, ihm dann aber während einer Konferenz in Washington telefonisch bedeutet, er werde jede der von ihm getroffenen Entscheidungen mittragen – um sich freilich anschließend in Schweigen zu hüllen.
So steht der gründlich blamierte Brandt nun allein auf weiter Flur. Wie politisch naiv müsse ein Regierungschef sein, fragen zahlreiche Medien, der sich persönlich in einen Tarifkonflikt einschalte und dazu noch die neben der IG Metall einflussreichste Gewerkschaft mit der Ankündigung konkreter Obergrenzen provoziere. Anstatt ihm zumindest zuzubilligen, dass er zur Eindämmung einer bereits galoppierenden Inflation ökonomisch das Beste gewollt hat, schüttelt die Fachwelt die Köpfe.
Bis zum nächsten Paukenschlag dauert es wiederum nur ein paar Wochen. In welchem Ausmaß das Vertrauen in die Mehrheitspartei der Bonner Koalition schwindet, zeigt sich Anfang 1974 bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg. Dort verliert die SPD über zehn Prozentpunkte – ein Fiasko, das den Lokalmatador Schmidt veranlasst, zum
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