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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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offenen Konflikt. Er will im Vorfeld des Bundestagswahljahrs 1980 das erstmals vom rechtskonservativen Hardliner Franz Josef Strauß herausgeforderte Bonner Bündnis nicht über Gebühr strapazieren und damit womöglich ausgerechnet einem Mann in die Karten spielen, dessen Faible für Nuklearwaffen seit langem bekannt ist.
    Doch sein in erster Linie taktischer Schulterschluss mit dem Kanzler kann nicht kaschieren, dass sich zwischen ihnen ein Riss auftut. Während Schmidt seine Position nach einem überraschend deutlichen Stimmenzuwachs für die FDP spürbar festigt, ermuntert das solide Gesamtergebnis der Wahl die Raketengegner in seiner Partei, den Nato-Plan umso entschiedener zu torpedieren. Der pragmatischen «Schmidt-SPD» steht immer unversöhnlicher eine militärkritische «Brandt-SPD» gegenüber, die in der Initiative der Allianz nichts anderes als einen verkappten Rüstungswettlauf vermutet.

    Als sich im September 1982 seine achteinhalbjährige Regierungszeit dem Ende zuneigt, sinnt der zweite sozialdemokratische Bundeskanzler über die Gründe des Niedergangs nach, um dann den Kern seiner Analyse dem «lieben Willy» schriftlich zu präsentieren: Bei der Stabübergabe im Kanzleramt, lässt er ihn in schönster Offenherzigkeit wissen, sei er sicher schlecht beraten gewesen, nicht zugleich auch den Chefsessel der Partei zu besetzen – wie sich nach seiner Einschätzung nun in der Rückschau erweise, leider ein schweres Versäumnis.
    Aus dem späten Bedauern über diesen «Fehler» entwickelt sich in den folgenden Wochen ein Briefwechsel, in dem sich die beiden Führungsgenossen zunehmend gereizt über ihr Leiden am jeweils anderen austauschen. Während Brandt den Kollegen mit der schroffen Feststellung in die Schranken verweist, «dass du ohne mich kaum länger, sondern wohl eher kürzer und vielleicht mit weniger Erfolg im Amt gewesen wärst», hält Schmidt kühl dagegen: Was die «Aufgabe und nötige Gestalt der Sozialdemokratie» anbelange, sei man «eben tatsächlich seit einem Jahrzehnt verschiedener Meinung».
    Diesem Befund kann der Vorsitzende allein schon deshalb nicht widersprechen, weil er einen zumindest seit Mai 1974 geltenden und schließlich ja auch von ihm angestrebten Zustand benennt. So geräuschlos sich Brandt da bereit erklärt, den Platz im Kabinett zu räumen und seine Kooperationsbereitschaft gegenüber dem neuen Regierungschef bekundet, so strikt beharrt er auf seinem Anspruch, in der Partei über die «großen Linien» zu wachen. Nach seinem Selbstverständnis ist er als erster Mann der SPD zumindest dann eine Art letzte Instanz, wenn es sich um richtungweisende Konzepte dreht, die in seiner Diktion «über den Tag hinausgehen».
    Folglich lässt er sich nur ungern darüber belehren, wie die von Schmidt immer wieder heftig beklagte Performance der Partei zu ändern sei. Erregt sich der Kanzler etwa über die theoriebesessenen Hitzköpfe, die nach seiner Auffassung den Kampf um die Mitte der Gesellschaft unterminieren – weshalb er ihnen am liebsten die Mitgliedschaft entzöge –, legt sich der Vorsitzende hartnäckig quer: Wer Ziele ins Auge fasse, die prinzipiell mit den Vorstellungen von einem «demokratischen Sozialismus» im Einklang stünden, werde unter seiner Führung nicht ausgegrenzt.
    In solchen Äußerungen machen sich seine Erfahrungen als einstiges SAP-Mitglied wieder bemerkbar. Einerseits weiß er, wie riskant es ist, die Basis der SPD durch die Aufnahme und Integration vorwiegend linker Strömungen zu verbreitern, aber noch mehr ängstigt ihn die Gefahr schleichender Spaltungsprozesse. Nach seiner voreilig-unbedachten und gerade im Ausland kritisierten Zustimmung zum «Radikalenerlass» geläutert, möchte er daheim und jenseits der Grenzen das Bild einer hinreichend sensiblen, solidarischen Sozialdemokratie vermitteln, die nicht nur mit ihrer deutschen Tüchtigkeit überzeugt, wie sie vom ökonomisch versierten Genossen Schmidt verkörpert wird. Stattdessen habe er, so formuliert es der Elder Statesman später in seinen Memoiren, «eine Generation verstehen lernen» wollen, «die unter dem Motto aufgewachsen war, dass alles gehe, und erfahren musste, um welchen Irrglauben es sich handelte».
    Sein Ehrgeiz, die Partei zu öffnen und einer Verfestigung ihrer zum Teil überkommenen Strukturen entgegenzutreten, wird dabei maßgeblich von den zahllosen internationalen Aktivitäten befördert. Allein 1978 bereist er als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale

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