Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Konstellation.
Hatte er anfangs noch darauf gehofft, der angestrebte «Verhandlungsteil» könne die Stationierung zusätzlicher Waffensysteme überflüssig machen, schätzt er die Lage von da an sehr viel realistischer ein. Die von einer Nachrüstung ursprünglich wenig begeisterten Vereinigten Staaten finden unter der neuen Führung zusehends Gefallen daran, den sowjetischen «SS-20» mit ihren noch präziseren «Pershing II»-Raketen und den «Cruise Missile»-Marschflugkörpern entgegenzutreten, und Helmut Schmidt bestärkt sie in dieser Absicht.
Dagegen versteift sich Brandt immer hartnäckiger darauf, seine Entspannungspolitik zu retten, und besucht im Sommer 1981 Leonid Breschnew, um mit dem Kreml-Chef über einen Ausweg zu beraten. Aber als er mit dem Vorschlag eines Rüstungsmoratoriums in die Bundeshauptstadt zurückkehrt, lässt ihn das sozialliberale Kabinett rüde abblitzen. Was der SPD-Vorsitzende womöglich etwas zu vertrauensselig als redliches Zugeständnis des KPdSU-Generalsekretärs wertet, hält die westliche Allianz für eine der üblichen Finten.
Kein Wunder, wenn sich nach diesem Dissens die Fronten weiter verhärten. In deutschen Regierungskreisen und weiten Teilen der Opposition setzt sich der über Jahrzehnte hinweg den USA verhaftete Sozialdemokrat sogar dem Verdacht aus, den Argumenten Moskaus größere Plausibilität zu bescheinigen als jenen des eigenen Lagers – ein Affront, der ihn nun allerdings kaum noch berührt. So kommt es im Herbst schließlich zum Eklat: Eine an ihn gerichtete «dringliche Bitte» des Kanzlers, er möge den auf einer Bonner Friedenskundgebung als Redner angekündigten Präsidiumskollegen Erhard Eppler verpflichten, sich von der «antiamerikanischen Aufputschung» fernzuhalten, lehnt er rundweg ab.
Folgt man den Einlassungen Schmidts, markiert dieser Akt der Illoyalität in seinen sowieso schon angespannten Beziehungen zu Willy Brandt einen neuen Tiefpunkt. Die brüske Zurückweisung trifft ihn umso mehr, als er bereits seit Monaten auch sonst schwer zu kämpfen hat. Im schleswig-holsteinischen Brokdorf protestieren achtzigtausend Menschen gegen die von ihm favorisierte Kernkraft, und fast ebenso viele versammeln sich in Baden-Württemberg, um mit einer vom Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten Demonstration gegen die drastisch ausgeweiteten Sparmaßnahmen mobilzumachen, die sie empört als «soziale Demontage» betrachten.
Am liebsten reist der leidenschaftliche Wahlkämpfer Willy Brandt – hier 1980 im Speisewagen mit Bonner Journalisten – per Sonderzug durchs Land.
Dem «Volkskanzler» läuft, wie sich vor allem bei dem Aufmarsch von dreihunderttausend Kritikern des Nato-Doppelbeschlusses im Bonner Hofgarten zeigt, das Volk davon, und bei den Landtags- und Kommunalwahlen müssen die Koalitionspartner eine Niederlage nach der anderen einstecken. Brandt geht derweilen immer deutlicher zu Schmidt auf Distanz – und wenn er sich zwischendurch auch noch bemüht, das Auseinanderdriften von Partei und Regierung zu bemänteln, beschäftigt er sich de facto längst mit dem Ende der sozialliberalen Ära: Die Einheit der SPD zu bewahren, ist ihm letztlich wichtiger.
Nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum, das den Herausforderer Helmut Kohl im Bund mit der FDP ans Ziel seiner Wünsche bringt, dann die schonungslose interne Korrespondenz zwischen den roten Kombattanten: Der gestrauchelte Kanzler fühlt sich von seinem Genossen besonders in der «Raketenfrage» im Stich gelassen – ein Vorwurf, den der Adressat energisch mit der Bemerkung zurückweist, er habe ihm insoweit selbst in schwierigsten Zeiten stets zu klaren Mehrheiten verholfen. Auffälligerweise wird in dem Briefwechsel dagegen mit keiner Silbe der zunächst von beiden in der Öffentlichkeit erweckte Eindruck erwähnt, Schmidt sei in erster Linie aufgrund eines schnöden Verrats seiner entnervten freidemokratischen Kompagnons Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff aus dem Amt gedrängt worden.
Schwer zu sagen, ob Brandt den Machtverlust der SPD im Herbst 1982 auch als innere Befreiung empfindet, aber die Umstände sprechen dafür. Nach dem Sturz des Regierungschefs und dem leisen Abschied des schon länger kränkelnden Herbert Wehner, der sich nach der vorgezogenen Bundestagswahl vom März 1983 aus der Politik zurückzieht, steht er als der einzig politisch überlebende «Troikaner» plötzlich ohne ernstzunehmende Rivalen da. Unangefochtener denn je dominiert er seine in die
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