Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Opposition verbannte SPD in der Manier eines Patriarchen, der es sich leisten kann, Fehler einzugestehen und das Ruder nahezu im Alleingang herumzureißen.
Er habe die Nachrüstung nur seinem Kanzler zuliebe unterstützt, verrät der Vorsitzende im September und erklärt den bisherigen Kurs seiner Partei wenig später auf einer zweiten großen Friedenskundgebung kurz entschlossen für obsolet: Da die Vereinigten Staaten augenscheinlich nur noch an einer Stationierung ihrer Raketen statt an der eigentlich im Nato-Doppelbeschluss angelegten Verhandlungslösung interessiert seien, korrigiert sich der ungebetene Gastredner, könne er den Plan nicht länger mittragen. Allerdings bekennt er sich dann ebenso konsequent zum westlichen Verteidigungsbündnis wie zur Bundeswehr und nimmt klaglos in Kauf, mit Eiern und Feuerwerkskörpern beworfen zu werden.
Und diese Linie setzt Brandt danach auch spielend auf einem Sonderparteitag in Köln durch. Mit dem Versprechen, dass die SPD ihre außen- und verteidigungspolitischen Verpflichtungen lediglich insofern modifiziere, als sie die Rüstungsspirale ablehne, holt er die bis dahin eher dem Schmidt-Konzept zugeneigten konservativen Genossen ins Boot und feiert einen phänomenalen Triumph. Am Ende stemmen sich bloß noch vierzehn der vierhundert anwesenden Delegierten gegen einen entsprechenden Leitantrag des Bundesvorstandes – für den konsternierten Exkanzler aus Hamburg ein Debakel.
Verhindern kann der SPD-Chef das «Teufelszeug» aber nicht. Die inzwischen mit satter Mehrheit regierende christlich-liberale Koalition schafft schon kurz darauf die Voraussetzung dafür, dass die ersten «Pershing II» und «Cruise Missiles» über die Straßen der Republik in die Raketendepots rollen – wie sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erweist, ein äußerst wichtiger, wenn nicht der entscheidende Schritt zu einer vollständigen Verschrottung aller nuklearen Systeme mittlerer Reichweite.
Im Herbst 1983 jedoch erscheint es Brandt unvermeidlich, eine fundamentale Abkehr von der Politik Schmidt’scher Prägung zu vollziehen. Nach dreizehn Monaten in der Opposition suchen die Sozialdemokraten unverhohlen den Anschluss an die mächtig aufblühenden Öko- und Friedensinitiativen, die der Vorsitzende ebenso erfolgreich zu umgarnen hofft wie Ende der Sechziger einen erheblichen Teil der APO. Also wendet er seine SPD mit Unterstützung des neuen Fraktionschefs Hans-Jochen Vogel deutlich nach links. Sowohl in den Bereichen Wirtschaft und Soziales als auch bezüglich der Nutzung der Kernenergie oder der Verteidigungsstrategie werden nun zügig fast alle Positionen geräumt, die sich mit dem Namen des Altkanzlers verbinden. Nur «selten in der deutschen Parlamentsgeschichte», analysiert später der Göttinger Wissenschaftler Franz Walter, habe eine Partei den Bruch mit ihrem Regierungschef «so radikal vollzogen».
Schon die Landtagswahl in Hessen vom September 1982 hatte nach Ansicht Brandts ja gezeigt, dass es für die Sozialdemokratie durchaus eine Alternative zu den bisherigen Bündnissen gebe. Immerhin musste dort die CDU, obwohl sie die stärkste Fraktion stellte, in der Opposition verharren, weil ihr vom Machtwechsel im Bund erheblich imagegeschädigter potenzieller Partner FDP die Fünf-Prozent-Hürde riss – und ein anderer stand ihr nicht zur Verfügung. Dagegen bot die neue dritte Kraft, die mit stolzen acht Prozent erstmals in den Wiesbadener Landtag eingezogene und in der SPD eigentlich noch verfemte Jungschar der Grünen, dem amtierenden roten Ministerpräsidenten Holger Börner die Duldung an – sodass der mit einem Minderheitskabinett einfach weiterregieren konnte.
Liegt Brandt nicht also richtig, wenn er am Wahlabend in der traditionellen Bonner Runde der Parteivorsitzenden aufreizend gut gelaunt eine «Mehrheit diesseits der Union» konstatiert? Als ihm Kohl, der wenige Tage später Bundeskanzler wird, wütend entgegenhält, im Verein mit den angeblich demokratiefeindlichen Grünen eine «andere Republik» anzustreben, lässt ihn das ziemlich kalt, und die Entwicklung danach bestätigt ja auch zunächst seinen Optimismus. Dass die rasch sprichwörtlichen «hessischen Verhältnisse», die binnen weniger Monate Neuwahlen erzwingen, die nun deutlich gestärkte SPD in Wiesbaden zu einer offiziellen Koalition mit der neuen Partei ermutigen – in der sich ein junger, etwas ungebärdiger Sponti namens Joschka Fischer als Ressortleiter für Umweltfragen in Jeans und
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