Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
alles dickleibige, insgesamt fast tausendsiebenhundert Seiten umfassende essayistische Werke, in denen der Leser von seinem komplizierten Innenleben freilich nur wenig erfährt.
«Ohne Indiskretionen auszubreiten», will der Verfasser stattdessen der Öffentlichkeit die «Schichtungen und Verschachtelungen» seines Denkens näherbringen, soweit die unter den Sachzwängen des flüchtigen Alltagsgeschäfts nicht mehr hinreichend sichtbar geworden sind – im Wesentlichen rückwärtsgewandte Versuche der Selbstvergewisserung, mit denen er zugleich aber auch einem möglichen Missverständnis vorzubeugen beabsichtigt: Was immer jetzt mit ihm noch geschieht, es soll kein Zweifel daran aufkommen, dass er sich wie eh und je zu den zentralen politischen Figuren im Lande zählt.
Wer wollte das auch bestreiten? Schließlich steht er weiterhin der größten und traditionsreichsten Partei Deutschlands als Chef vor, eine Funktion «in der Nachfolge August Bebels», der er zu Recht enormes Gewicht beimisst und die weiterhin auszuüben ihn der neue Kanzler geradezu bekniet hat. Neben dem Knochenjob im Palais Schaumburg auch noch die chronisch aufmüpfige SPD zu übernehmen, traut sich Schmidt offenkundig nicht zu.
Müßig, darüber zu rätseln, ob sich Brandt darauf überhaupt eingelassen hätte; von der starken Mitte-links-Phalanx der Sozialdemokraten gar nicht zu reden. Für sie ist ihr «Willy» nach wie vor so konkurrenzlos erste Wahl, dass selbst der allzeit um den Machterhalt besorgte Herbert Wehner die in der «Troika» unter der Hand getroffene Vereinbarung stützt. Wiewohl sich der alte Fuhrmann und sein von ihm entthronter Rivale über die unvermeidlichen Kontakte hinaus kaum noch etwas zu sagen haben, trägt er in der Pose des Opferlamms tapfer sein «Kreuz».
Andererseits kann dem Vorsitzenden nicht verborgen bleiben, mit welcher Geschwindigkeit sich selbst Bundesbürger, die auf seine Demission wie unter Schock stehend reagierten, flexibel dem neuen Hoffnungsträger zuwenden. Umfragen fördern zutage, dass die einst so sehnlich erwarteten Reformen inzwischen von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung eher als kontraproduktiv oder gar illusionär empfunden werden. Weit populärer sind stattdessen schon bald an Nüchternheit und Augenmaß gemahnende Schlüsselbegriffe, etwa «Kompetenz» und «Effizienz», wie Helmut Schmidt sie zu verkörpern verspricht.
Natürlich ist das für seinen Vorgänger eine wenig schmeichelhafte Entwicklung, aber der ordnet sich ein. Seine Hauptaufgabe, sagt er selber, bestehe nun darin, dem zweiten sozialdemokratischen Regierungschef der Bundesrepublik «den Rücken freizuhalten», und dass er es damit ernst meint, soll niemand bezweifeln. Zugleich steckt der im Führungstriumvirat freiwillig hinter Schmidt und Wehner zurücktretende Parteivorsitzende gelassen seinen Claim ab. Als «Chairman der Partei» reist er bereits sechs Wochen nach dem «Stafettenwechsel» quer durchs Land, um auf Regionalkonferenzen das «große Gespräch» an der Basis zu suchen und dem Fußvolk seinen Gemütszustand zu erklären. Wer ihn verdächtige, ihm sei «nach Resignation zumute, irrt gewaltig», bekräftigt er dort vor Ortsvereinsfunktionären und vermeidet alles, was ihm als Dienst nach Vorschrift ausgelegt werden könnte.
«Schließlich habe ich meinen Hut ja bloß zur Hälfte genommen», sagt er aufreizend selbstbewusst, und das Ergebnis seines Bemühens um einen möglichst realitätsnahen Dialog spricht für sich. Es gibt kaum jemanden, der die Ämtertrennung kritisiert, aber zahllose Genossen, die sie ausdrücklich begrüßen. Sich künftig auf einen regierenden Pragmatiker einstellen zu müssen, fällt den Sozialdemokraten offenkundig leichter, solange sie noch ihren «Willy» im Boot wissen – und der fühlt sich legitimiert, seiner SPD die nötigen Spielräume zu bewahren.
Zwischen ihm und Helmut Schmidt entwickelt sich zumindest anfänglich eine ersprießliche Liaison. «Ich habe nachträglich ein größeres Maß an Bewunderung für meinen Parteivorsitzenden, der das Doppelamt immerhin über vier Jahre durchgehalten hat, als seinerzeit, wo ich es miterlebte», gesteht der Kanzler im Sommer 1976 dem NDR-Journalisten Jürgen Kellermeier und rühmt die Arbeit im Duett. Nachteile seien bisher jedenfalls «nicht in Erscheinung getreten, und zwar deswegen nicht, weil wir bei aller Verschiedenheit der Lebenswege, der Charaktere, des persönlichen Stils doch voneinander wissen, dass wir am
Weitere Kostenlose Bücher