Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
und Chef der Nord-Süd-Kommission, der im Spannungsfeld zwischen reichen Industriestaaten und den Underdogs der Dritten Welt Brücken zu bauen versucht, binnen eines knappen Jahres Japan, Indien und Afrika, um nach einem Mammutprogramm quer durch Europa im Herbst die Vereinigten Staaten und zum Schluss das kanadische Vancouver anzusteuern – und dort kollabiert er.
Was er leichthin zu einer fiebrigen Grippe herunterredet, entpuppt sich in der Bonner Universitätsklinik als verschleppter, schwerer Herzinfarkt – eine Zäsur, die seiner strapaziösen beruflichen Laufbahn ein jähes Ende zu setzen scheint. Doch der mittlerweile fünfundsechzigjährige Workaholic bewältigt auch diesen Tiefschlag. Mehrere Wochen lang unterzieht er sich in einem südfranzösischen Rehabilitationshospital einer gründlichen Kur, lässt sich zum zweiten Mal nach seiner Kehlkopfoperation das Rauchen verbieten und bringt sich mit langen Spaziergängen an der malerischen Côte d’Azur so in Form, dass er bereits Anfang April 1979 auf die politische Bühne zurückkehren kann.
Dass der erstaunlich agile Rekonvaleszent von da an bisweilen den Eindruck erweckt, als sei er einem Jungbrunnen entstiegen, liegt vor allem an der zweiunddreißigjährigen Historikerin und Journalistin Brigitte Seebacher. Ihr, einer Parteifreundin, die ihm zunächst in der Pressestelle der SPD aufgefallen ist, verdankt er die sorgsame Pflege und nach der Genesung einen zweiten Frühling. Im Dezember 1983, unmittelbar vor seinem Siebzigsten, wird er mit der allgemein als kühl und unnahbar empfundenen Norddeutschen, die an einer Dissertation über Erich Ollenhauer arbeitet, seine dritte Ehe eingehen. Das Paar zieht nach Unkel, etwa zwanzig Kilometer südlich von Bonn, und erwirbt darüber hinaus in den französischen Cevennen ein altes Bauerngehöft.
Natürlich beschäftigt Brandts spätes Glück die Medien, wobei die Trennung von seiner bisherigen Partnerin Rut, mit der er immerhin dreiunddreißig Jahre lang Tisch und Bett geteilt hat, am stärksten ins Blickfeld rückt. Gerätselt wird dabei in erster Linie über die von vielen als äußerst befremdlich empfundene Wortkargheit, mit der er nach einer offenbar reibungslosen Regelung der Besitz- und Versorgungsansprüche die Mutter der gemeinsamen Söhne Peter, Lars und Matthias aus seinem Leben zu streichen scheint. Selbst in den danach publizierten autobiographischen Büchern ist ihm die sympathische Norwegerin, ohne deren Loyalität und aufopferungsvolle Unterstützung seine Karriere so wohl kaum möglich gewesen wäre, nur noch wenige Halbsätze wert.
Umso eifriger bemüht sich der Parteipatriarch, den Vorstellungen und Wünschen der neuen Gefährtin zu entsprechen. Er trainiert sich das Übergewicht ab, verbessert mit modischen, gelegentlich etwas zu grellen Farben sein Outfit und revanchiert sich für ihre Anstrengungen, seinen vorher häufig labilen Seelenzustand zu stabilisieren, indem er sich selber auf ungewohnt familiäre Art präsentiert: Ihr Mann, verrät Brigitte Seebacher der «Bild»-Zeitung, helfe ihr durchaus schon mal beim Kochen oder schleppe den Mülleimer aus der Wohnung.
Seine Bereitschaft, sich sogar in häuslichen Angelegenheiten zu engagieren, mag nicht zuletzt darin begründet liegen, dass er nun eine Gesprächspartnerin hat, die seinen intellektuellen Bedürfnissen gerecht wird. Die seit 1965 der SPD angehörende Genossin gilt als Expertin für die frühe Entwicklungsgeschichte der Arbeiterbewegung – ein Thema, das ihn von jeher wie kaum ein anderes interessiert – und erweist sich auch sonst als erfreulich anregend: Bei geselligen Treffen, die sie in Unkel oder im französischen Domizil organisiert, versammelt sich überwiegend die von ihrem Willy ohnedies umgarnte «Enkel»-Generation – vorweg der sinnenfroh-dynamische Saarländer Oskar Lafontaine, der mit seiner Frau aufkreuzt und ihm besonders ans Herz wächst. So fühlt er sich nach seinem Zusammenbruch bald wieder erholt genug, den zunehmend sich verschärfenden zentralen Konflikt in seiner Partei zu managen. Nach dem von Helmut Schmidt initiierten, im Dezember 1979 in Brüssel verabschiedeten Nato-Doppelbeschluss droht der Bundesrepublik eine bis dahin nie erlebte innere Zerreißprobe, die zumal in der SPD zur offenen Feindseligkeit eskaliert, als im Januar 1981 in Washington der kompromisslose US-Präsident Ronald Reagan sein Amt antritt. Für den sichtlich besorgten Brandt ist das eine äußerst problematische
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