Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
vorzugaukeln, gewinnt er nun peu à peu jenes Charisma, das sich auch nach seiner enttäuschenden zweiten Amtszeit als Kanzler nur vorübergehend verflüchtigt. Schließlich ist er weiterhin «der Vorsitzende des ältesten und erfolgreichsten Vereins im Lande», dem er «noch auf unbegrenzte Dauer gerne zur Verfügung stehen» möchte. «Die Partei tut ihre Arbeit», ruft er bei einer großangelegten Reise zu den sozialdemokratischen Bezirks- und Kreisverbänden in allenthalben prall gefüllte Säle, «sie reißt sich am Riemen!»
Auf die Nachfolge August Bebels, dessen goldene Taschenuhr er mit ersichtlichem Stolz sogar noch als Privatier trägt, soll sich jedenfalls niemand zu früh freuen. Zwar akzeptiert er, dass nach dem Wechsel im Kanzleramt der Kollege Helmut Schmidt in der berühmten «Troika» die Funktion des Zugpferds übernimmt, sieht sich aber nach wie vor auch selber als gestaltende Kraft. Die SPD im Wesentlichen auf die Rolle des parlamentarischen Mehrheitsbeschaffers zu reduzieren – was der ehrgeizige Hanseat ein über das andere Mal ebenso energisch fordert wie der unverwandt um den Machterhalt besorgte Fraktionsvorsteher Herbert Wehner –, kommt für Brandt nie in Betracht.
So unbestreitbar der Kanzler seiner Meinung nach einen Anspruch darauf hat, dass ihm die Genossen das Regierungsgeschäft erleichtern, so stoisch folgt er in den zahlreichen «über den Tag hinausgehenden Fragen» seinen eigenen Vorstellungen – im roten Olymp, in dem jeder an jeden gekettet ist, von Anfang an ein schwelender Konflikt. Nicht selten verstrickt sich dieser Verbund dreier exzellenter politischer Profis in Konkurrenzkämpfe, die sich bis zum Hass steigern, erweist sich zugleich aber auch als äußerst produktiv. Länger und wirkungsmächtiger bleibt in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte kein ähnlich strukturierter Männerzirkel am Ruder.
Dabei versteht sich der Fußballfan Willy Brandt, wie er bisweilen ironisch zum Besten gibt, als «typischer Ausputzer mit Drang nach vorne». Der amtierenden Koalition, die er ja aus vollem Herzen gewollt hat, den Rücken zu stärken, soll ihn nicht daran hindern, in seiner immer wieder von Zerreißproben gebeutelten Partei über Zukunftsperspektiven nachzudenken, und das «gegebenenfalls gegen den Strich». Ihre Stabilität zu befördern, ohne sie strikt vor Strömungen abzuschotten, wie sie etwa in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in Form der Öko- und Friedensbewegung neue Fragen aufwerfen, steht auf seiner Prioritätenliste obenan.
Bekräftigt wird diese Philosophie insbesondere von seiner Angst vor einer Spaltung der SPD, die ihn praktisch nie ganz verlässt und sich aus einer alle anderen Motive überwölbenden, fast traumatischen Erfahrung nährt: Der Erfolg der Nazis, analysiert der Korrespondent und Widerstandskämpfer bereits im Exil, habe nicht zuletzt auf der Unfähigkeit der deutschen Arbeiterorganisationen beruht, ihre während des Ersten Weltkriegs verlorene Geschlossenheit zurückzugewinnen, was ihn umso tiefer berührt, als er sich ja selbst Vorwürfe zu machen hat.
So wichtig ihm die Regierungsbeteiligung ist – einen noch höheren Stellenwert besitzt für ihn die Stärkung der Identität und Einheit der SPD, und je weniger sich die beiden Zielsetzungen miteinander verbinden lassen, desto schmerzhafter die Reibungsverluste. Während sich Helmut Schmidt und die Mehrheit seiner Parlamentsfraktion bald über Neomarxisten und andere Quälgeister beschweren, pocht Brandt auf die Integration einer stark anwachsenden Zahl «heimatloser Linker und Ökos», die ihn als Vorboten einer «vierten Kraft» alarmieren.
Kaum überraschend, dass er deshalb etwa an einem Tag im Sommer 1977 wie nie zuvor reagiert. Nachdem ihm Herbert Wehner im Präsidium wieder mal mangelnden Flankenschutz zur Last gelegt hat («Der Kanzler tut mir leid»), schlägt sich der Gescholtene demonstrativ auf die Seite derer, die sich weigern, allein die Koalitionsinteressen anzuerkennen, und verliert einen Moment lang die Contenance. Mit geballten Fäusten seinen Schreibtisch bearbeitend, droht er dem «ewigen Querkopf» an, sich «eher von ihm loszusagen, als schweigend die Spaltung der Partei hinzunehmen».
Das erste und höchste Gebot, dem sich der in seiner Jugend zur linksradikalen SAP übergelaufene Vorsitzende verpflichtet fühlt, heißt, «den Laden zusammenzuhalten» – was nach seiner festen Überzeugung nur dann gelingen kann, wenn sich die Sozialdemokratie so weit
Weitere Kostenlose Bücher