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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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des Komplotts mit Ostberlin verdächtigen wird. Ein bisschen kritisiert sich der grollende Autor aber auch selber: Anstatt sich aufgrund einer im Kern wenig bedeutsamen Spionageaffäre von «seltsamen Tugendwächtern» ins Bockshorn jagen zu lassen, hätte er besser dort aufräumen sollen, «wo aufzuräumen war».
    Kein Wunder, dass die SPD die peinlichen Details routiniert verwedelt, während den Elder Statesman das Thema bis zuletzt verfolgt. Es sei ihm in seinem Buch, verrät er in einem persönlichen Gespräch wenige Monate vor seinem Tod, nicht so sehr um Wehner als zuvörderst um eine «Klarstellung in eigener Sache» gegangen: «Der ehemalige Kanzler», verfällt er dann einmal mehr in die stets etwas pathetisch klingende dritte Person Singular, «wollte der ursprünglich von Günter Grass in Umlauf gebrachten, sicher gutgemeinten Mutmaßung entgegentreten, dass ihn die Macht ekelte und er deshalb so schlaff reagierte.»
    Ganz neu ist sein offenkundig dringlicher Wunsch, der Nachwelt als ein in allen Belangen «normaler Politiker» im Gedächtnis haftenzubleiben, nicht – und einen Augenblick lang erinnert er an diesem Nachmittag im März 1992 an jenen Willy Brandt, der bereits zwanzig Jahre zuvor einen «in einigen Köpfen herumspukenden Irrtum» zu korrigieren versucht: Dass sich gewisse Kollegen in der Pose des zupackenden Pragmatikers gefielen und ihm den «Mantel des großen Moralapostels» umhängten, mosert damals der Friedensnobelpreisträger, sei «einfach Quatsch».
    Nein, solche «feuilletonistischen Zuschreibungen», egal von wem sie geäußert werden, sind dem ersten regierenden Sozialdemokraten der Bundesrepublik allein schon deshalb suspekt, weil er mit ihnen seine fachliche Alltagstauglichkeit in Zweifel gezogen sieht – und die soll ihm niemand bestreiten. Sosehr es ihm einerseits behagt, in einem von eher robusten Typen dominierten Metier seiner bekannten Skrupel wegen als Ausnahmeerscheinung zu gelten, so entschieden legt er Wert darauf, über einen ähnlich intakten Machtwillen und Wirklichkeitssinn zu verfügen «wie die selbsternannten Realisten».
    Diese Fähigkeiten stellt er ja auch eindrucksvoll unter Beweis. Keine Wahlkampagne in der Bonner Nachkriegsgeschichte wird stärker von nur einer Figur geprägt als jene im Herbst 1972, in der sich nahezu alles um ihn dreht. Während er für die erzkonservativen Hardliner im Lande als vormaliger Emigrant weiterhin ein Verräter und Nestbeschmutzer bleibt, überfrachtet ihn das sozialliberale Milieu mit kaum minder polarisierenden, kühnen Erwartungen – ein zum Volksfeind und zugleich Heilsbringer stilisierter Politiker, der im Strudel aufgepeitschter Emotionen dennoch verblüffend unbeirrt seinen Kurs steuert.
    Wenn sich der schließlich glorreich im Amt bestätigte Bundeskanzler seinen Sieg danach nicht zuletzt damit erklärt, dass er sich strikt alle ihm von dritter Seite «zugedachten» und seine Identität tangierenden «Rollen» vom Leibe gehalten habe, ist das vermutlich bloß leicht übertrieben. Immerhin ermitteln die Demoskopen für den früher häufig zur Selbstinszenierung neigenden und nach fremden Erfolgsmustern schielenden Sozialdemokraten unter dem Rubrum «Glaubwürdigkeit» beste Werte.
    Ist Willy Brandt an diesem denkwürdigen Abend des 19. November endlich dort angekommen, wo ihn der Dichter Heinrich Böll schon zu Beginn des Jahres sieht? In seinem Lebenslauf liege «Stoff für eine Legende, fast für ein Märchen, das wahr wurde», schwärmt der spätere Literaturnobelpreisträger und bildet mit dem Kollegen Günter Grass die Speerspitze eines Fanclubs Intellektueller, wie es ihn so zugunsten eines Regierungschefs in Deutschland noch nie gegeben hat. In den Augen besonders beseelter Autoren scheint sich bereits eine «Symbiose zwischen Geist und Macht» anzubahnen.
    Doch dann rutscht der in erster Linie wegen seiner Entspannungsinitiativen umjubelte Kanzler unversehens in die Krise. Nach der gleich zu Beginn der zweiten Legislaturperiode notwendig gewordenen Operation am Kehlkopf, die ihn einige Wochen lang buchstäblich verstummen lässt, fasst er auch politisch nicht mehr so richtig Tritt – und dem sagenhaften Höhenflug folgt schon einige Zeit vor der Guillaume-Affäre ein ähnlich aufsehenerregender Absturz.
    Für die Medien, und zumal jene, die ihn vorher mit immer neuen Superlativen in den Himmel hoben, ein letztlich klarer Fall: Der auf seinem Spezialgebiet so instinktsichere Brandt, heißt es in Bonn, habe

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