Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
sich in den Niederungen des profanen Tagesgeschäfts eben doch eher uninspiriert bewegt, weshalb der Spionageskandal keineswegs die Ursache seiner Demission gewesen sei. «Der ist an nichts und niemandem gescheitert als allein an sich selber», mischt sich wenig zimperlich sogar der Nachfolger Helmut Schmidt in den Disput über die Gründe ein.
Zwar nennt der Exkanzler solche Kommentare, die ihm die angebliche Aussichtslosigkeit seiner politischen Situation im Mai 1974 suggerieren, bis ins hohe Alter hinein eine «billige Lesart», aber wie sehr er sich tatsächlich «persönlich kaputt» gefühlt habe, bestätigt er andererseits auf seltsam anmutende Weise schon damals: Hätten ihm die Ärzte im Zusammenhang mit dem chirurgischen Eingriff an seinen Stimmbändern «nicht das Rauchen verboten», verbreitet er da nach dem Rücktritt allen Ernstes, wäre er «vermutlich noch an Bord».
Was zunächst einmal wie eine billige Ausrede klingt, offenbart ein ernsthaftes Problem, und weil über seine komplizierten, meistens von plötzlichen Stimmungsumschwüngen begleiteten Gemütslagen im hellhörigen «Bundesdorf» Bonn ohnehin seit längerem gelästert wird, findet er es augenscheinlich durchaus in Ordnung, auch noch diese Schwäche zu beichten. Sollen sich die Leute über Abhängigkeiten und Süchte erheben! Der «verdammte Nikotinentzug», räumt er achselzuckend ein, habe eben leider seine «Widerstandskraft» enorm beeinträchtigt.
Willy Brandt und das «vertrackte Innere», wie er seine fragile Psyche gelegentlich selbst umschreibt: Bereits zu seinen Berliner Zeiten verkriecht sich der Regierende Bürgermeister mitunter tagelang wortlos ins Bett – nach Ansicht enger Freunde periodisch auftretende Depressionen, die er häufig als Grippe tarnt und bis zum Lebensende nie ganz loswird. Von einem manifesten Krankheitsbild, hält die dritte und letzte Ehefrau Brigitte Seebacher nach seinem Tod dagegen, könne allerdings keine Rede sein. Vielmehr habe ihr für Formen der «Selbststilisierung» empfänglicher Mann diese «Rückzugsmanöver» so dringend gebraucht wie andere den jährlichen Urlaub.
Ähnlich sieht das der älteste Sohn Peter. Nach seiner Beobachtung verarbeitet der stark introvertierte Vater während solcher Pausen, die er sich in unübersichtlichen Situationen regelmäßig genehmigt, schmerzliche Umbrüche und Abschiede – was ihn bei einem Menschen, der sich schon als Minderjähriger von Familie, Partei und Heimatland getrennt und diese «Zwangsreaktion» von frühester Jugend an eingeübt habe, nicht sonderlich überrascht. Umso mehr erstaunt ihn dann freilich noch heute, «mit welcher geradezu unglaublichen Regenerationsfähigkeit solche Auszeiten einhergingen».
Denn Brandt ist zugleich auch ein Mann der immer neuen Anfänge. Selbst von bittersten Niederlagen erholt er sich bald. Nachdem er etwa 1965 zum zweiten Mal damit scheitert, seine Partei bei der Bundestagswahl an die Regierung zu bringen, schließt er eine weitere Spitzenkandidatur zunächst kategorisch aus, doch diese selbstauferlegte politische Enthaltsamkeit hält er nicht lange durch, und auch den leicht theatralischen Vorwurf an die Adresse des «deutschen Volkes», es habe weniger die SPD als ganz bewusst ihn, den ehemaligen Exilanten, von der Macht fernhalten wollen, wird er so nie mehr in den Mund nehmen. Stattdessen setzt er sich in Berlin mit seiner latenten, «einem Erfolg in Bonn entgegenstehenden Kränkungsanfälligkeit» auseinander, um dann kurzerhand den Schwur auf sich beruhen zu lassen und das langersehnte Ziel doch noch zu erreichen.
Von den vielen vergeblichen Anläufen und Rückschlägen ist das die mit Abstand wichtigste Zäsur. Wie vier Jahre zuvor, als der einst zum Freiheitshelden verklärte «Frontstadt-Kommandant» auf den Bau der Mauer reagiert, indem er eine programmatisch radikale Kurswende hin zur Entspannungspolitik vollzieht, begreift er jetzt die Schlappe gegen den populären Wirtschaftswundermann Ludwig Erhard als eine «heilsame Lehre». Vor allem findet er konsequent zu sich selber.
Passé die mitunter irritierend opportunistische Tour der wie ferngesteuert wirkenden Kennedy-Kopie – den leutselig um Zustimmung buhlenden «Smiling Willy», der seine stramm auf Anpassungskurs getrimmte Partei als «beste CDU aller Zeiten» zu verkaufen versucht hat, gibt es fortan nicht mehr.
Und erst mit dem Verzicht darauf, der Öffentlichkeit einen möglichst glanzvollen und widerspruchsfreien Politiker
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