Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
hatte, ihm ein von der SPD finanziertes Stipendium zu vermitteln –, lässt sich nun nicht mehr realisieren.
Zunächst muss er sich überhaupt erst um die Zulassung zur Reifeprüfung im Lübecker Johanneum bemühen, die er durch seine politischen Umtriebe zunehmend gefährdet. So bringt ihn eine der nächtlichen Straßenschlachten, die er mit seinen Kumpanen vom SJVD den immer dreister auftrumpfenden Hitler-Jungen liefert, sogar vor den Kadi. Der mangels Beweises verkündete Freispruch schützt ihn nicht vor dem Zorn des Direktors, denn der hält allein schon die bloße Tatsache für «schandbar», dass sich ein Angehöriger seiner Schule wegen des Verdachts der Körperverletzung in einem Strafprozess verantworten muss. Doch andererseits hat er auch Glück. Sein Protektor Eilhard Erich Pauls schanzt ihm in Geschichte das Thema «August Bebel» zu; der hierfür bestens präparierte Primaner erhält für das Heldenepos seines sozialdemokratischen Idols, das er in der Prüfung zu Papier bringt, ein glattes «sehr gut». Die gleiche Zensur erreicht der getaufte, auf Geheiß des Großvaters aber streng säkular erzogene Lutheraner außerdem nur noch in Religion.
Alles in allem ist es kein glanzvolles Zeugnis, mit dem sich der Pennäler im Februar 1932 aus seinem Gymnasium verabschiedet. Wie es wohl ausgegangen wäre, fragt er sich noch Jahre danach, wenn man ihn in sämtlichen Fächern geprüft hätte, und erspart sich darauf vielsagend die Antwort. Dass er nach seinem eigenen Bewertungsschema nicht das gewesen ist, «was man einen Musterschüler nennt», liegt zum Teil auch an einem ins Missionarische gewendeten Eifer begründet: In seinem von Pauls ebenfalls mit der Bestnote beurteilten Deutschaufsatz, in dem es um Lernen und Leben geht, kritisiert er forsch das Johanneum, dessen wirklichkeitsfremder «schwankender Liberalismus» ihm auf einmal missfällt. Ihrer «engen parteipolitischen Einstellung» wegen stuft der Klassenlehrer die Arbeit herunter.
Mit dem Abschluss lässt sich, wie es der Abiturient schon vorher befürchtet hat, in der Krisenzeit kaum etwas anfangen, aber er nimmt es gelassen. Da ihm zum Studium das Geld fehlt, verdingt er sich bei einer Lübecker Schiffsmakler-Firma, wo er als Volontär Zollpapiere ausstellt und sich auch um die sonstigen Formalitäten kümmert, wenn vorwiegend skandinavische und holländische Kapitäne ihre Fracht zu deklarieren haben. Den mit monatlich fünfzehn Reichsmark äußerst bescheiden vergüteten Job versieht er nicht ungern, weil er ihm die Chance bietet, seine anfänglich noch spärlichen Sprachkenntnisse zu erweitern.
Vor allem schärft der Kontakt mit den Seeleuten, Fischern und Hafenarbeitern seinen Blick für die Situation der Unterprivilegierten im Lande – und was ihm tagsüber an gesellschaftskritischem Bewusstsein zuwächst, setzt der gelehrige Jungsozialist bei den zahlreichen Abendveranstaltungen seiner SAP in sprachmächtige politische Reden um. Mit Attacken auf die Republik, der er vorwirft, sie begünstige ihre geschworenen Feinde und verabreiche «Beruhigungspillen, um die Aktivität und Entschlusskraft der Massen zu lähmen», macht er sich rasch einen Namen. Im Bezirk Mecklenburg will ihn die Partei sogar mit der Spitzenkandidatur für die bevorstehenden Landtagswahlen betrauen – doch der Genosse ist ja noch nicht volljährig.
Ein Mandat hätte der ehrgeizige Frahm wohl ohnehin nicht errungen: Seine linke Splittergruppe, die er eigentlich als großes Sammelbecken versteht, findet im Wesentlichen bloß bei Intellektuellen und einem kleinen Teil der Jugend Anklang, und wo immer sie antritt, fährt sie die denkbar schlechtesten Ergebnisse ein. Bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 erzielt sie gerade mal 0,2 Prozent der Stimmen – für den unermüdlich rackernden SAP-Matador, der sich stolz als «Parteiführer im Kleinen» sieht und der SPD mit eigenhändig vor den Werkstoren verteiltem Propagandamaterial den «Bruderkampf» ansagt, ist das eine niederschmetternde Erfahrung.
Das mickrige Echo muss ihn umso mehr enttäuschen, als sich die Sozialdemokraten bereits im April zu einem weiteren demütigenden Kompromiss aufgerafft und, um den drohenden Durchmarsch Hitlers abzublocken, in eine zweite Amtszeit Hindenburgs eingewilligt haben. Seiner Auffassung nach kann das nur in der Katastrophe enden – eine Einschätzung, die sich einige Monate später als richtig erweisen soll.
Das entscheidende Ereignis spielt sich indessen nach der Erinnerung Willy
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