Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Brandts am 20. Juli jenes Jahres ab. Da entmachtet der neue, von Hindenburg eingesetzte Reichskanzler Franz von Papen mit dessen Rückendeckung im Freistaat Preußen die letzte noch bestehende Landesregierung unter sozialdemokratischer Führung und ernennt sich selber zum Reichskommissar – ein eklatanter Verfassungsbruch, von dem sogar der notorisch pessimistische Frahm glaubt, dass ihn die Republik nicht hinnehmen werde.
Doch in diesem Fall irrt er sich. Zwar ruft die SPD zur höchsten Kampfbereitschaft auf, warnt aber zugleich vor «unüberlegten Aktionen», und auch in seinem Lübecker «Volksboten» liest der empörte Sozialist am Morgen nach dem kalten Putsch lediglich flaue Maßhalteappelle: Bei allem Erschrecken, beschwichtigt Julius Leber, sei man «nicht töricht und verantwortungslos genug, deutsche Arbeiter vor die Mündung schussbereiter Maschinengewehre zu treiben». Stattdessen wirbt der Kommentar dafür, die Justiz einzuschalten.
Obwohl er ahnt, dass es dem Griff nach der Macht schaden könnte, lässt sich sogar der Kanzleraspirant Brandt noch unmittelbar vor seiner ersten Kandidatur nicht davon abbringen, eine radikal gegenläufige Position zu vertreten. «Es sollte klar sein», belehrt er die an der Analyse der NS-Vergangenheit damals kaum interessierten Bundesbürger, dass der von den republikanischen Parteiführern in der Weimarer Endzeit verworfene Widerstand sehr wohl «einen tiefen Sinn gehabt haben würde».
So viele Opfer dabei vielleicht auch zu beklagen gewesen wären, hält er seinen Landsleuten vor Augen, «er würde zumindest der Welt die Treue breitester Schichten des deutschen Volkes zur Demokratie bewiesen haben», wohingegen eine kampflose Kapitulation wie die vom Juli 1932 «die Tragödie zur Farce» mache. Sie nehme «dem Geschlagenen das Letzte, das er besitzt, das Kostbarste: seine Selbstachtung». An diesem «schrecklichen Tag», beharrt er noch im Herbst 1960, «brach das Rückgrat der Opposition gegen Hitler».
Aber in der ganzen Tristesse, die ihn seinerzeit überfällt, wird ihm zum Trost auch ein schöner Augenblick beschert. Wie in vielen Städten des Reichs organisieren die Lübecker wenigstens einige Protestveranstaltungen, und auf einer zeigt der Hauptredner Leber, wozu er ebenfalls imstande ist. Die Emphase, in der er der «Freiheitsbewegung des arbeitenden deutschen Volkes» weiterhin die Kraft zutraut, sich der «Gegenrevolution» nicht einfach zu unterwerfen, begeistert den SPD-Dissidenten derart, dass er einen Moment lang die Fassung verliert. Er glaubt, ihn als Freund «wiedergefunden» zu haben, und sein Herz beginnt «wie toll» zu pochen, doch als er beschließt, ihm auf dem Podium die Hand zu drücken, stürmt die SA in den Saal. So bleibt ihm als letzter Eindruck, wie sich der robuste Genosse mit einem Stuhlbein bewaffnet den Weg zum Ausgang bahnt.
In den folgenden Monaten scheint sich dann das Schicksal noch einmal zu wenden. Bei der Reichstagswahl im November 1932 büßt die NSDAP immerhin mehr als zwei Millionen Stimmen ein und gerät danach in arge Finanznöte, während der erfolglose Franz von Papen das Handtuch wirft. Er räumt seinen Chefsessel für den ähnlich schwer durchschaubaren politischen Hasardeur Generalleutnant Kurt von Schleicher, aber ostelbische Junker, die unter dessen Kanzlerschaft ihre Pfründen bedroht sehen, überreden Hindenburg, sich endlich zu Hitler zu bekennen. Den «böhmischen Gefreiten» glauben sie und andere politisch einflussreiche Kreise besser an die Kandare nehmen zu können.
Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 teilen die Linkssozialisten zumindest insoweit den Optimismus der Konservativen, als sogar sie sich zunächst an die Vorstellung klammern, der neue Mann werde ebenso bald verschwinden wie sein Vorgänger. In einem Lande «mit der bestgeschulten und bestorganisierten Arbeiterschaft in Europa» habe der auf Dauer vielleicht doch keine Chance, versucht sich selbst der Funktionär Herbert Frahm einzureden. Wie bitterernst dagegen die Situation wirklich ist, erweist sich schon bald im Fall Julius Lebers, der in Lübeck zu den ersten Opfern des Nazi-Regimes zählt.
Die für seine Festnahme maßgeblichen Umstände lassen sich nie ganz klären. Adolf Hitler ist gerade mal zwei Tage im Amt, als es in der Hansestadt zu schweren Zusammenstößen kommt. Der Behauptung der Ermittlungsbehörden, ein Fackelzug zugunsten des «Führers» sei vom Reichsbanner angegriffen worden, wobei ein Leibwächter des
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