Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
«Volksboten»-Chefs einen SA-Mann tödlich verletzt habe, setzt Willy Brandt später seine Version entgegen: Danach wird Leber auf dem Heimweg von einer Sitzung gezielt attackiert und nach einer heftigen Messerstecherei «mit durchgeschnittenem Nasenbein» verhaftet. Dass in mehreren Betrieben alarmierte Belegschaften die Möglichkeit eines Generalstreiks debattieren, findet jedenfalls seine Zustimmung, und so wählt man ihn in eine Delegation, die dem Ortsausschuss-Vorsitzenden der Freien Gewerkschaften eine entsprechende Entschließung auf den Tisch legt. Aber der winkt nur müde ab: Ob die Kollegen nicht wüssten, gibt er windelweich zu bedenken, dass die geplante Aktion «ungesetzlich» sei, und weigert sich strikt, das gefährliche Papier in die Hand zu nehmen.
Damit ist der Traum von der Einheitsfront praktisch ausgeträumt; er lebt in Lübeck nur noch für einen Abend kurz auf: Bei eisiger Kälte strömen zu einer der machtvollsten Demonstrationen, die es dort je gegeben hat, auf dem Burgfeld annähernd fünfzehntausend Menschen zusammen – an ihrer Spitze der gegen Kaution vorübergehend aus dem Gefängnislazarett entlassene Julius Leber, dessen dicker Kopfverband für Herbert Frahm nun den ungebrochenen Widerstandsgeist symbolisiert. Das Einzige, was der mit Sprechverbot belegte Sozialdemokrat auf dieser denkwürdigen Kundgebung sagt, ist das trotzig hervorgestoßene Wort «Freiheit».
In der Rückschau Brandts sind das zwei unvergessliche Bilder, die nach seiner Wahrnehmung zu Beginn der Nazi-Barbarei den Zustand des linken Lagers bekräftigen: auf der einen Seite der heimlich verehrte «Vater», dem er von da an nie mehr begegnen wird – auf der anderen der schlaffe Gewerkschaftsboss. Dessen deprimierend flinker Gehorsam, das kurz zuvor noch sakrosankte Streikrecht in beinahe schon obszöner Weise gesetzwidrig zu nennen, wird ihm zeit seines Lebens als abschreckendes Beispiel dienen.
Aber wer redet damals noch lange von Rechten? Nach dem Reichstagsbrand vom 28. Februar, den die braunen Häscher als Vorwand für eine landesweite Terrorwelle nutzen, gehört er ja ebenfalls zu den «Illegalen». Weil die Initiatoren der SAP ihre Partei inzwischen offiziell aufgelöst haben, arbeitet er mit einem kleinen Rest, der nicht so einfach aufgeben will, im Untergrund. In Dresden versammeln sich diese Genossen in einem sorgsam abgeschirmten Lokal zu einer konspirativen Konferenz, auf der sie den vormaligen KPD-Funktionär Jacob Walcher, einen Metaller aus Schwaben, zu ihrem neuen Vorsitzenden bestimmen.
Auf der Zugfahrt dorthin – und einer kurzen Zwischenstation in Berlin, wo ihn das mittlerweile allgegenwärtige Misstrauen «wie ein giftiger Nebel» niederdrückt – trägt der Lübecker Delegierte Herbert Frahm zur Tarnung nicht nur seine Primaner-Mütze vom Johanneum, er legt sich in Absprache mit seinen Kollegen auch einen Decknamen zu. Für sie heißt er von da an Willy Brandt, eine Entscheidung, an der nach dem Kriege häufig herumgerätselt wird.
Hat er sie, wie er selber einige Zeit glauben macht, aus dem Stegreif getroffen, oder stimmt eher die Deutung der mit ihm später befreundeten Publizistin Carola Stern, die eine etwas andere Geschichte erzählt? Da er bereits nach der Machtübernahme Hitlers die Flucht erwogen habe, schreibt sie, sei es ihm vor allem darum gegangen, ein für Skandinavier nicht zu fremd klingendes deutsches Pseudonym zu wählen.
Der hartnäckig fragenden Journalistin Oriana Fallaci offenbart Willy Brandt schließlich ein drittes, das womöglich eigentliche Motiv. Auf dem Höhepunkt seiner Regentschaft beichtet der Kanzler, was er in den Jahren davor vermutlich nicht über die Lippen zu bringen gewagt hat: Er habe schon frühzeitig und jedenfalls unabhängig von seiner Emigration mit dem Gedanken gespielt, «einen eigenen Namen zu haben, der nur mir gehört».
Seine dritte Ehefrau, Brigitte Seebacher, die ab 1978 mit ihm Tisch und Bett teilt, bekräftigt dieses Geständnis. Einfühlsam zeichnet sie ihren «W. B.» als einen in seiner Kindheit unter «extremer Einsamkeit» leidenden Menschen, der zugleich stets darauf bedacht gewesen sei, sich von niemandem vereinnahmen zu lassen. Um seine traurige familiäre Vergangenheit abzustreifen, habe er sich als «Mystiker und Melancholiker» gleichsam neu erschaffen.
Selbst wenn das vielleicht ein bisschen überinterpretiert sein mag – in den Wochen, in denen die Nazis mit großen Säuberungsaktionen ihre Macht festigen, erfüllt
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