Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
Vom Netzwerk:
die Camouflage ihren Zweck. Dass Herbert Frahm und Willy Brandt ein und dieselbe Person sind, entdeckt die Gestapo jedenfalls erst, als er sich längst nach Norwegen abgesetzt hat.
    Aber noch ist er in Dresden. Dem Terror zum Trotz wird dort erstaunlich zuversichtlich beschlossen, «die Befreiung des Reiches» in das Zentrum aller Aktivitäten zu stellen. So will sich die Untergrund-SAP zunächst bemühen, Auslandsstützpunkte zu errichten, um von dort aus die Welt über die Zustände in Deutschland aufzuklären und die daheim operierenden Trupps mit Informationsmaterial über das Geschehen jenseits der Grenzen zu versorgen. Dem Abgesandten aus Lübeck, der bislang nur heimlich Flugblätter in seiner Heimatstadt verteilt hat, überträgt der Vorstand dabei eine heikle Aufgabe: Er soll für den bereits steckbrieflich gesuchten Schriftsteller Paul Frölich – wie Jacob Walcher vormals kommunistischer «Rechtsabweichler» und einstiger Nachlassverwalter Rosa Luxemburgs – eine Passage nach Oslo organisieren.
    Doch das Unternehmen scheitert. Zwar gelingt es ihm, für den Transport einen Kutter zu besorgen, in dem er den Genossen von Fehmarn aus zunächst nach Dänemark zu schleusen beabsichtigt, aber der offenbar nur unzulänglich als Fischer verkleidete Autor fliegt im letzten Moment auf. Immerhin erweist sich Frölich in fünf Monaten KZ selbst unter Folter als nervenstark genug, weder ein persönliches Schuldbekenntnis abzulegen noch Informationen zulasten Dritter preiszugeben. Nach seiner Entlassung setzt er sich Anfang 1934 nach Frankreich ab.
    An seine Stelle tritt nun der Fluchthelfer. Unklar bleibt im Nachhinein, ob ihn die «Geheime Reichsleitung» der SAP, die den Einsatz ihrer Kombattanten von Berlin aus steuert, für die beste Wahl hält oder der als unerschrocken geltende neunzehnjährige Genosse in erster Linie aus eigenem Engagement handelt. Eine gewisse Bedeutung gewinnt diese Frage insofern, als sich noch im Bundestagswahljahr 1972 wüste Legenden um sein plötzliches Verschwinden ranken. Er sei vor der Lübecker Staatsanwaltschaft davongelaufen, die ihn im Zusammenhang mit dem Angriff auf Leber und der Ermordung des SA-Mannes gesucht habe. Der leicht zu erbringende Beweis, dass er an der Schlägerei gar nicht teilgenommen hat, scheint die vorwiegend rechtsradikalen «Rechercheure» kaum zu kümmern.
    Interessanter als diese bald wieder abebbende offenkundige Verleumdungswelle ist dann allerdings die Frage nach seinem wahren Grund. Geht Brandt, weil er bereits in den ersten Wochen der Nazi-Herrschaft um Leib und Leben fürchten muss, oder treibt ihn vor allem der Ehrgeiz, im Ausland kämpfen zu können?

    Folgt man seinen Argumenten, sieht er sich nach der Festnahme Frölichs selbst stark gefährdet, und das umso mehr, als ihm ein Mitstreiter, der Rechtsreferendar Emil Peters, der am heimischen Schöffengericht tätig ist, eine unmittelbar bevorstehende Großfahndung ankündigt. Bei dem Anfang der fünfziger Jahre angefachten Disput darüber, wie weit sein Entschluss tatsächlich zwingend geboten war oder einer konkret kaum zu begründenden Angst entsprang, hüllt sich Brandt selbst meist in Schweigen. Immerhin, sagt er dazu als Elder Statesman, habe es keine «sittliche Pflicht» gegeben, «im Dritten Reich zu bleiben und es dem Zufall zu überlassen, ob man schon früh in einem Keller erschlagen oder später in einem hassenswerten Krieg verheizt würde».
    Eine Rolle mag dabei auch sein Verhältnis zu Lübeck spielen. So gerne er als «im Grunde sentimentaler typischer Norddeutscher» darauf verweist, zumindest «ein Stück vom Wesen dieser Stadt» in sich zu tragen, so sehr beschwert ihn auch ihre Enge. In der Erinnerung einiger Zeitgenossen, die ihn in Anspielung auf den Beruf der Mutter noch nach seiner Wahl zum Bundeskanzler respektlos den «Lümmel vom Konsum» nennen, gilt er als Außenseiter – in jungen Jahren scheint er also schon der «ewige Fremdling» zu sein, als den ihn etwa Brigitte Seebacher beschreibt. Der Historiker Arnulf Baring jedenfalls mutmaßt, der politisch weit über die Grenzen seines Sprengels hinaus denkende Herbert Frahm habe sich bereits lange vor den Repressalien der Nazis in St. Lorenz «im Exil» befunden.
    Auch wenn sich in den erhalten gebliebenen Polizeiakten keine Belege dafür finden ließen, sei er davon ausgegangen, «mit Schlimmerem als einer Tracht SA-Prügel» rechnen zu müssen, verteidigt Willy Brandt dagegen die Flucht. Wer ihm folglich «Fernweh oder

Weitere Kostenlose Bücher