Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
gar Feigheit» unterstelle, erfasse nicht einmal «einen Teil» der Anfang 1933 in Deutschland herrschenden Wirklichkeit.
Zumindest verlangt ihm der nach der Ablösung von Elternhaus und Partei dritte gewaltige Einschnitt – der Verlust der Heimat – sehr viel mehr Kraft und Mut ab, als ihm notorische Kritiker zugestehen möchten. In Lübeck, wo die Nationalsozialisten die in der Nähe seiner Dachkammer gelegene August-Bebel-Straße nach ihrem Liederdichter in Horst-Wessel-Straße umtaufen und seinen geliebten «Volksboten» systematisch zum offiziellen NS-Organ ausbauen, fühlt er sich mit jeder Veränderung immer weniger zu Hause, und es drängt ihn «zur Tat».
Erleichtert wird ihm die Trennung dadurch, dass ihn die besorgte Mutter ebenso zu verstehen versucht wie der an dem Umsturz zunehmend leidende Großvater. Darüber hinaus darf er sich mit dem Segen seiner Freundin Gertrud «Trudel» Meyer aufmachen – einer «lebensfrohen, politisch interessierten kaufmännischen Angestellten», die ihrem Herbert bereits bei dessen Übertritt in die Sozialistische Arbeiterpartei gefolgt ist. Sie versichert ihm, bald nachzukommen, und hält ihr Versprechen.
Von «Papas» Sparbuch mit hundert Mark ausgestattet, schleicht sich Willy Brandt in Travemünde auf einen Kutter, den ihm Emil Peters vermittelt hat. In einer Aktentasche trägt er lediglich ein paar Hemden mit sich – und den ersten Band des «Kapitals» von Karl Marx. Vermutlich ist es die Nacht zum 2. April 1933, als ihn der couragierte Stiefsohn eines Travemünder Sozialdemokraten, der Fischer Paul Stooß, in das dänische Rödbyhavn verfrachtet.
Der amateurhaft unbekümmerte Passagier handelt dabei allerdings wenig konspirativ. Bevor er an Bord geht, genehmigt er sich in einer Kneipe ein letztes Bier und trifft zufällig auf einen zu den Nazis übergelaufenen ehemaligen SAJ-Kumpan, der aus seiner neuen Weltanschauung keinen Hehl macht und offenbar auch erkennt, was der einstige Parteifreund im Schilde führt, ihn aber nicht verrät. Und ein zweites Mal scheint er an jenem Abend einen Schutzheiligen zu haben: Während sich der Flüchtling bereits hinter Tauwerk und Tonnen versteckt hält, wird das Boot vom deutschen Zoll kontrolliert, doch belassen es die Beamten bei einer laxen Warenkontrolle.
Nach der Beschreibung des Brandt-Ghostwriters Leo Lania, der in dieser Passage wieder in die erste Person Singular verfällt, gerät die Tour zur Insel Lolland indessen auch so noch zum Drama: «Es war die schlimmste Fahrt, die ich je mitgemacht habe. Das Wetter war fürchterlich, die Qualen der Seekrankheit erschienen mir unerträglich.» Um halbwegs auf die Beine zu kommen, seien am Zielort schon einige Tassen starken Kaffees mit einer gehörigen Portion Aquavit vonnöten gewesen.
Lässt der Kanzlerkandidat hier zu sehr seine Phantasie ins Kraut schießen? Der Kapitän Paul Stooß will, wie er später erzählt, von alledem nichts bemerkt haben.
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2.
«Als Versprengter einer Armee» Exil in Norwegen
Je bekannter der Emigrant in der Bonner Nachkriegsrepublik wird, desto häufiger konfrontieren ihn seine politischen Gegner mit seiner «Vergangenheit». Nachhaltige Wirkung erzielt dabei insbesondere eine Bemerkung, die der Hardliner der CSU, Franz Josef Strauß, 1961 in seine Rede zum politischen Aschermittwoch einflicht und die den sensiblen Sozialdemokraten bis ins hohe Alter hinein verfolgt. «Eines wird man doch Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie die zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.»
Noch in seinem 1982 veröffentlichten Rückblick «Links und frei» empfindet der Exkanzler die in diesen Worten mitklingende Unterstellung als besonders infam. Raffinierter als die mit offenem Visier gerittenen Attacken schürt sie den Verdacht, er, der im Exil die norwegische Staatsbürgerschaft annahm, habe weit vom Schuss zunächst ein sorgenfreies Leben geführt und dann mit der Waffe in der Hand gegen sein Vaterland gekämpft, während daheim Not und Elend herrschten. Der Vorwurf, «draußen» gewesen zu sein – in der von Strauß suggerierten Deutung also bewusst außerhalb der eigenen bedrängten Schicksalsgemeinschaft gestanden zu haben –, lässt ihm keine Ruhe. Bereits 1966 wählt er das Reizwort als Titel einer Auswahl seiner in Skandinavien verfassten Schriften, in deren Begleittext er sich selbst zum «extremen Fall» ernennt. Ihm leuchtet ein, dass seine Biographie Argwohn erregt, da sie
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