Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Bahr ein kompetentes Triumvirat, das mittels verdeckter Kontakte zu den offiziell am Konferenztisch sitzenden Diplomaten zumindest indirekt an den Verhandlungen teilnimmt.
Zum ersten Mal seit Beginn des Kalten Krieges bemühen sich Moskau und Washington, ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Viersektorenstadt an der Spree mit der Suche nach einem tragfähigen Kompromiss gerecht zu werden – und das unter Einschluss der Deutschen! Natürlich erfüllt der am 3. September 1971 verkündete Vertrag nicht sämtliche Wünsche der sozialliberalen Koalition, aber einer der heikelsten internationalen Konfliktherde ist so tatsächlich beseitigt: Westberlin wird politisch und verkehrstechnisch stärker mit der Bundesrepublik verwoben, wodurch vor allem die Basis für zahlreiche menschliche Erleichterungen gelegt ist.
Die Berliner atmen auf, und der ehemalige Regierende Bürgermeister weiß sich an diesem Tag «besonders belohnt». Das Abkommen, das die Sowjets allerdings erst in Kraft treten lassen wollen, wenn im Bonner Parlament die Verträge mit Moskau und Warschau ratifiziert worden sind, sichert dem freien Teil der Stadt nicht nur einen lange erstrebten «Status quo plus» zu, sondern festigt auch seine eigene Position. Beim US-Präsidenten Richard Nixon, der die Unterzeichnung in einem «Bericht zur Lage der Welt» als «Meilenstein» feiert, schwinden die Zweifel an dem selbstbewussten Kanzler.
Der Kreml-Herr Leonid Breschnew sieht in ihm gar einen potenziellen Vermittler. Schon zwei Wochen nach dem Berlin-Deal empfängt er den Regierungschef vom Rhein auf seinem Sommersitz in Oreanda am Schwarzen Meer zu einem bis dahin beispiellos harmonischen Treffen. «Der oberste Kommunist begann für den obersten deutschen Sozialdemokraten persönliche Gefühle zu entwickeln», erinnert sich in seinen Memoiren der Reisebegleiter Egon Bahr und berichtet genüsslich darüber, wie er den stürmischen «russischen Renaissancemenschen» behutsam davon abgehalten habe, den «spröden Lübecker» zu küssen. Zum Vergnügen der Fotografen gehen die beiden Staatsmänner gemeinsam schwimmen, und am Ende ihrer Gespräche sei der Generalsekretär nur schwer davon abzubringen gewesen, im Kommuniqué die Vokabel «Freundschaft» zu verwenden.
Zwar ändert das an den fundamentalen Gegensätzen zwischen Ost und West zunächst nur wenig, aber der Kanzler erprobt so ein weiteres Mal mit beachtlichem Erfolg, was ihm seit längerem als Richtschnur dient: Ein Politiker, hatte Brandt bereits im Herbst 1967 als Außenminister in einer Rede zum Gedenken an seinen von Angehörigen der rechtsextremen Organisation Consul ermordeten Vorgänger Walther Rathenau erklärt, könne den Interessen des eigenen Landes umso besser gerecht werden, je genauer er die Interessen der anderen Seite verstehe – wenngleich diese Methode einer «zuweilen brutalen Aufrichtigkeit, der gleichen Sprache gegenüber allen Partnern und des Mutes zur Unpopularität» bedürfe.
Breschnew weiß diese Offenheit zu schätzen, und sie mag ihren Teil dazu beitragen, dass er im Nachgang zu Oreanda nicht nur merklich die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu verbessern versucht, sondern sich darüber hinaus ernsthafter als zuvor um eine europäische Friedensordnung bemüht. Dass die Supermächte zwei Jahre später unter dem Kürzel MBFR – Mutual Balanced Force Reduction – einer beiderseitigen Truppenverminderung den Weg zu ebnen beginnen, ist, wie später selbst Henry Kissinger durchblicken lässt, auch das Resultat erster Fühlungnahmen auf der Krim.
Für den Kanzler eine insgesamt starke Zwischenbilanz: In gerade mal dreiundzwanzig Monaten sozialliberaler Koalition hat er trotz der parlamentarisch wackeligen Mehrheit die Republik durch die in Moskau und Warschau unterzeichneten Abkommen aus ihrer Selbstfesselung befreit, um dann in der leidigen Berlin-Frage den entspannungspolitischen Realitätstest zu bestehen. Jetzt fehlt nur noch der Grundlagenvertrag mit der DDR, über den die Staatssekretäre Egon Bahr und Michael Kohl im November 1970 erstmals beraten.
Dabei steht ihm das mit der größten persönlichen Genugtuung verbundene Ereignis erst bevor: Für seine Bereitschaft, «als Chef der westdeutschen Regierung und im Namen des deutschen Volkes die Hand zu einer Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt» zu haben, wie es in der offiziellen Begründung heißt, wird ihm am 20. Oktober 1971 in Oslo der Friedensnobelpreis zugesprochen.
Ein Bonner Politiker im
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