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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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seines versierten Sparkommissars verblüffend unbeteiligt. Er will sich größere Querelen ersparen, und da sich auch Kollegen wie vor allem Herbert Wehner über den abrupten Abgang spürbar erleichtert zeigen, lässt er sich noch am selben Tag bereitwillig einen Nachfolger andienen.
    Auf Drängen des Fraktionsvorsitzenden gebietet nun Karl Schiller über ein aus Wirtschaft und Finanzen zusammengesetztes Doppelministerium, eine Art Schatzkanzleramt, in dem die Währungs- und Haushaltspolitik besser koordiniert werden kann – aber nicht nur das: Aus der Perspektive des Kabinettsherrn eröffnet sich mit der Stärkung des ehrgeizigen Gelehrten zugleich die Chance, einerseits den lästigsten aller Quälgeister, Helmut Schmidt, auf Distanz zu halten und andererseits ein Gegengewicht zu den mächtig rumorenden Linken in der SPD zu bilden.
    Denn neben den Stressfaktoren, die sich aus der Verschlechterung der ökonomischen Rahmendaten ergeben, hat sich Brandt mit dem zunehmend diffusen Erscheinungsbild seiner Partei auseinanderzusetzen. Wie nie zuvor in ihrer Geschichte muss sie seit Mitte der sechziger Jahre einen Strukturwandel verkraften; die einstmals gesellschaftlich klar dominierende Arbeiterschaft schrumpft kontinuierlich zugunsten des Mittelstands, und anstelle altgedienter Gewerkschaftsfunktionäre bestimmen nun die Angehörigen einer neuen, überwiegend akademisch geprägten Generation den politischen Diskurs. Als die Sozialdemokraten im Herbst 1969 erstmals die Bundesregierung anführen, sind mehr als sechzig Prozent der Mitglieder jünger als vierzig Jahre, und in den Siebzigern steigt die Zahl der Neuzugänge noch weiter an.
    Entsprechend ändert sich in der Partei die Tonlage. Die stürmischen, oft mit der Studentenbewegung oder der APO sympathisierenden Jungsozialisten bringen die Führung spätestens dann in Rage, als sie schon wenige Wochen nach dem Bonner Regierungswechsel rigoros darüber Auskunft verlangen, welchen Zwecken der Machtgewinn dienen solle, um sich auf einem Juso-Bundeskongress in München gleich selber die Antwort zu geben: In einer «kapitalistischen Klassengesellschaft» sei es mit dem im Godesberger Programm verankerten «Reformismus» nicht getan; die SPD habe sich vielmehr ihrer marxistischen Wurzeln zu erinnern und «systemüberwindende» Konzepte zu erarbeiten.
    Bürgerschreck-Parolen und – wie Willy Brandt im Mai 1970 in einer scharfen Rede in Saarbrücken rügt – wirklichkeitsfremde «Wortradikalismen» prägen von da an die ausufernden Debatten. Um den «Übergang zum Sozialismus» gestalten zu können, fordert die zunehmend renitente Nachwuchsorganisation etwa die Verstaatlichung der Banken, flächendeckende Investitionskontrollen und einen Spitzensteuersatz von mindestens sechzig Prozent. Für Schiller sind das ausnahmslos unzumutbare Vorstellungen. Das Gros der Delegierten, entfährt es ihm im November 1971 auf einem Programmparteitag in der Bonner Beethovenhalle entsetzt, wolle offenkundig «eine andere Republik».
    Besonders starke Indizien gibt es dafür seit geraumer Zeit in München. Dort steht der populäre Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel im erbitterten Abwehrkampf gegen eine immer größere Mehrheit in seinem Unterbezirksvorstand, die im Kern die Basis der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie in Frage stellt: Die Rebellen fordern nichts weniger, als die Abgeordneten über ein «imperatives Mandat» dem Weisungsrecht der Partei zu unterwerfen – eine Bevormundung, die Brandt für indiskutabel hält. Auf ihn bezogen, lässt er wissen, könne niemand einem sozialdemokratischen Regierungschef seine «Pflicht und Verantwortung nach dem Grundgesetz abnehmen».
    Aber die «Neue Linke» beeindruckt das kaum. Dass sich das «Establishment» in Bonn ihren Umtrieben energisch widersetzt und mit einem «Abgrenzungsbeschluss» jede Form von «Aktionsgemeinschaften» mit pseudorevolutionären «K-Gruppen» verbietet, fordert sie nur zusätzlich heraus. Ihre Mobilmachung gegen die «Reformisten», die sich an der Marktwirtschaft orientieren und denen sie bängliche Anpassung nach dem Muster der Kehrtwende von Godesberg vorwirft, wird sich später mit dem Beginn der Ära Helmut Schmidt eher noch verstärken.
    Auf die vielzitierten «Münchener Verhältnisse», die den entgeisterten Genossen Vogel im Frühjahr 1972 aus seiner Stadt vertreiben werden, reagiert der Kanzler auch deshalb mit ungewohnter Härte, weil sie der Opposition in die Hände spielen: Nichts

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