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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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ist daher gewaltig. Natürlich muss er von niemandem mehr darüber belehrt werden, welche Zumutung seine Absicht für die Gastgeber darstellt, «normale» Beziehungen zu einem Land aufzunehmen, in dem die Deutschen während des Krieges wie sonst nur in den besetzten sowjetischen Gebieten gewütet und über fünf Millionen Tote zurückgelassen haben. Vom ersten Augenblick an fühlt er sich auf polnischem Boden wie in einem psychischen Ausnahmezustand.
    Um der Bedeutung des Tages wenigstens halbwegs gerecht zu werden, erinnert sich der Exkanzler später, habe er nichts «geplant», sondern sich ganz seinen Empfindungen hingegeben. Am Mahnmal für die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden, wo er dem protokollarischen Ritual gemäß zunächst einen Kranz niederlegt, fällt er plötzlich auf die Knie – ein deutscher Widerstandskämpfer und im «Dritten Reich» selbst Verfolgter, der als Stellvertreter seiner Landsleute mit versteinertem Gesicht eine historische Schuld auf sich nimmt. «Irgendetwas musste man tun», sagt er danach zu Hause zu seiner Frau Rut und redet über diese wohl wirkungsmächtigste Seelenregung seines Lebens fortan nur noch ungern. Wer ihn habe verstehen wollen, habe ihn verstanden, und das sind vor allem im Ausland zahllose Menschen. Das Bild des deutschen Regierungschefs, der an einem Ort, an dem mit seinen Worten «die Hölle auf Erden möglich» war, demütig um Vergebung bittet, prägt sich der Welt als Jahrhundertgeste ein.
    Nur in der Bundesrepublik dominieren die kritischen Stimmen. In einer Blitzumfrage des «Spiegel» bewerten lediglich einundvierzig Prozent das Verhalten ihres Kanzlers als angemessen, während achtundvierzig Prozent der Aussage zustimmen, Brandt habe sich zu einer «übertriebenen» Reaktion hinreißen lassen. Dass das sozialliberale Bündnis die Gebiete jenseits von Oder und Neiße praktisch abgeschrieben hat, ist für die meisten schon schlimm genug.
    Doch Willy Brandt redet den Deutschen entschieden ins Gewissen: «Uns schmerzt das Verlorene», gesteht er noch am Abend der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags von Warschau aus in einer Botschaft an die Nation, «und das leidgeprüfte polnische Volk wird unsere Schmerzen respektieren», aber ein «klares Geschichtsbewusstsein» dulde keine «unerfüllbaren Ansprüche». Vielmehr sei es an der Zeit, endlich «die Kette des Unrechts zu durchbrechen». Dass Heimatvertriebene oder Kriegsteilnehmer solchen Appellen wenig abgewinnen können, verwundert kaum. Umso aufgeschlossener begegnen ihm die unruhigen Geister der nachgewachsenen Generation. Mit dem empfindsamen Sozialdemokraten, der verlangt, «die Moral als politische Kraft zu erkennen», können sie sich identifizieren wie mit kaum einem anderen Repräsentanten der Bonner Republik.

    «Irgendetwas musste man tun»: Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos bei seinem Staatsbesuch ist eine spontane Entscheidung.
    Auch im Ausland steigt sein Renommee rapide. Das «Time Magazine» kürt ihn zum «Man of the year 1970», eine Ehre, die damit begründet wird, er habe «die interessantesten und hoffnungsvollsten Visionen eines neuen Europa ins Auge gefasst, seit sich der Eiserne Vorhang herabsenkte». Diesen Lorbeer von einem der einflussreichsten Publikationsorgane der Vereinigten Staaten in Empfang nehmen zu dürfen, gefällt ihm allein schon deshalb, weil das Weiße Haus seine Ostpolitik immer noch mit mühsam im Zaum gehaltenen Bedenken verfolgt.
    Einen Tag vor Weihnachten schickt Brandt deshalb seine «Allzweckwaffe», den dynamischen Minister Horst Ehmke, ins Zentrum der westlichen Führungsmacht. Der versucht in einem Vieraugengespräch mit Henry Kissinger die bis dahin ergebnislosen Berlin-Verhandlungen zu beschleunigen, was ihm nach einigen Anlaufschwierigkeiten auch gelingt. Nixons in Deutschland geborener und aufgewachsener Sicherheitsberater erkennt, dass das Atlantische Bündnis Gefahr läuft, von der umtriebigen Sowjetunion Zug um Zug auseinanderdividiert zu werden, und gibt die Bremserrolle auf. «Wenn schon Entspannung», überzeugt er nun den Präsidenten, «dann machen wir sie.»
    Und der bisher über den Gedankenaustausch der Supermächte nur unzureichend unterrichtete Kanzler profitiert davon. Zwar bleibt ihm auch weiterhin verwehrt, unmittelbar in die hochkomplexe Causa Berlin einzugreifen, doch hat er jetzt seine «Kanäle». Valentin Falin und Kenneth Rush, die Botschafter der UdSSR und der USA in Bonn, bilden gemeinsam mit Egon

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