Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
die Fakten sprechen dagegen. Mit dem Vertrag gehe nichts verloren, was von einem verbrecherischen nationalsozialistischen System nicht längst verspielt worden sei, erklärt er noch von Moskau aus in einer via TV in die heimatlichen Wohnstuben ausgestrahlten Ansprache. Für diese erste Zwischenbilanz nutzt er absichtsvoll den Vorabend jenes neun Jahre zurückliegenden nationalen Schicksalstages, an dem in Berlin die Mauer errichtet wurde. Dieses Bauwerk zu überwinden – und mit ihm dereinst «die Teilung unseres Volkes» –, steht im Zentrum seiner eindringlichen Rede.
Dem Fernsehauftritt vorangegangen ist ein kaum minder bedeutsames Ereignis, das dem Kanzler vor Augen führt, welche hohen Erwartungen auch die sowjetische Seite mit dem Abkommen verbindet. Über volle vier Stunden hinweg hat ihm da der KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew unverblümt unterbreitet, dass er sich von einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen den beiden Ländern eine Art neues «Rapallo» aus der Frühphase der Weimarer Epoche erhofft. 1922 hatten das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik in dem italienischen Kurort einen von den Westmächten argwöhnisch betrachteten Vertrag über enge wirtschaftliche und politische Beziehungen ausgehandelt, und nun scheint der starke Mann im Kreml auf eine ähnliche Entwicklung zu setzen.
Doch Brandt ordnet die Schmeicheleien, mit denen ihn der Hausherr umgarnt, auf seine Weise ein. Noch stärker als der Wille, «ein neues Blatt in der Geschichte aufzuschlagen», ist die Angst vor der Mutmaßung der Verbündeten, seine Koalition könne insgeheim einen Sonderweg verfolgen. Den habe er, wie er in späteren Jahren von sich selber sagt, als «unbezweifelbar an westlichen Werten orientierter Mensch» nie im Sinn gehabt, und darauf achtet er auch schon damals: «Schaukeln kommt nicht in Frage» – umso zwingender erscheint es ihm, den Ausgleich mit den Staaten des Warschauer Pakts als «lebensnotwendige Ergänzung» zu begreifen.
Ob die USA das genauso sehen, lässt sich zu diesem Zeitpunkt mit hinreichender Gewissheit kaum sagen. Zwar hat Richard Nixon dem Kanzler bei dessen letztem Besuch in Washington im April 1970 versichert, er verdächtige ihn selbstverständlich keineswegs, «bewährte Freundschaften aufs Spiel zu setzen», doch gibt er schon im Jahr darauf seine Distanz zum deutschen Regierungschef zu Protokoll. Wie aus geheimen Tonbandaufzeichnungen hervorgeht (die allerdings erst Anfang 2000 veröffentlicht werden), bezeichnet er ihn gegenüber seinem Berater Henry Kissinger nicht nur als «ein bisschen dumm», sondern in seiner Umtriebigkeit auch schwer kalkulierbar: «Guter Gott», bricht es aus ihm heraus, «wenn das Deutschlands Hoffnung ist, dann hat Deutschland nicht viel Hoffnung.»
Sorgen bereitet Brandt darüber hinaus nach wie vor die noch ausstehende Einigung über den Status Berlins. Seit März 1970 bemühen sich die Alliierten des Zweiten Weltkriegs, ein Viermächteabkommen abzuschließen, das vor allem dem westlichen Teil der ehemaligen Hauptstadt endgültige Rechtssicherheit bescheren soll – für den einstigen Regierenden Bürgermeister eine Herzensangelegenheit, die ihm umso mehr zu schaffen macht, als er ihr mangels Zuständigkeit nur tatenlos aus der Ferne zusehen kann. Aber die Verhandlungen über den Vertrag, dem er im Zusammenhang mit seiner Entspannungspolitik höchste Priorität einräumt, schleppen sich quälend uninspiriert dahin.
Zudem wird der Erfolg von Moskau dadurch getrübt, dass den kleineren Staaten des Warschauer Pakts die Aktivitäten der sozialliberalen Koalition wenig behagen. Neben der zunehmend misstrauischen DDR, die sich seit dem Treffen des Kanzlers mit Stoph in Kassel verstärkt hinter ihrem Stacheldraht verbarrikadiert, beschweren sich nun selbst die Polen. Obschon ihnen eigentlich gefallen müsste, dass nach der Übereinkunft im Kreml die Unverletzlichkeit aller Grenzen in Europa außer Frage steht, nimmt die Volksrepublik insbesondere an der aus ihrer Perspektive befremdlichen Verfahrensweise Anstoß. Mag Bonn seit Februar auch mit Warschau über einen Grundlagenvertrag beraten – von den Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den Westdeutschen praktisch ausgeschlossen worden zu sein, erinnert sie fatal an den Pakt zwischen Hitler und Stalin. Der Druck, der auf Willy Brandt lastet, als er am 7. Dezember zur Verabschiedung des heikelsten seiner Versöhnungsprojekte an die Weichsel fliegt,
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